Regina Nössler: Tiefe Liebe, freier Fall

Leseprobe


„Soll ich Sie begleiten?“, fragte Isabel und folgte damit einer plötzlichen Eingebung. Dem sonderbaren und unerklärlichen Wunsch, dass die Fremde nicht sofort wieder verschwände, sondern einen Moment bei ihr bliebe.

 

„Oh, das wäre ... sehr nett. Aber haben Sie dafür denn Zeit?“

 

„Ich muss in dieselbe Richtung“, log Isabel. Sie war normalerweise kein Mensch, der sprach und erst dann dachte, sie dachte immer zuerst und wählte ihre Worte mit Sorgfalt. Diesmal nicht. Sie drängte sich einer Wildfremden auf, ohne zu wissen, warum, warf sich ihr geradezu an den Hals, als hätte sie an diesem Freitag nichts Besseres zu tun. Sie hätte in der Staatsbibliothek oder an ihrem Schreibtisch sitzen müssen. Stattdessen streifte sie ziellos durch die Straßen.

 

Manchmal stieg der Verdacht in ihr auf, dass sie ihre Dissertation niemals zu Ende schreiben würde. Sie schwebte über ihr wie das große schlechte Gewissen, das sich unablässig zu Wort meldete, tagsüber, abends, wenn sie einschlief, und morgens, wenn sie aufwachte. Nur aus ihren nächtlichen Träumen hielt es sich bislang noch fern, denn in ihnen geisterte etwas anderes herum. Jeden Tag wurde es schlimmer. Jeden Tag wuchs das schlechte Gewissen noch um ein paar Meter mehr. Es reichte schon längst bis in den Himmel und durchstieß die Wolken. Es war gigantisch.

 

Die zu schreibende Doktorarbeit war Isabels Lebensberechtigung und was würde mit ihrem Leben geschehen, wenn sie sie nicht schrieb? Sie war vierunddreißig Jahre alt. Manchmal wünschte sie sich in die Zeit zurück, in der sie für nichts verantwortlich war, in der ihr stets eine Scheibe Fleischwurst über die Theke des Metzgers gereicht wurde. Und wenn sie die Wurst entgegennahm, wurde sie angelächelt.

 

Isabel hatte keine Zeit, die fremde Frau zum Museum zu begleiten. Sie fragte sich, was in sie gefahren war, ihr ein solches Angebot zu machen. Andererseits war es eine willkommene Abwechslung. Vielleicht würde das große schlechte Gewissen sie eine Weile in Ruhe lassen und schweigen. Die Sonne schien. Es war erst ein Uhr mittags. Sie hatte noch den ganzen Tag zur Verfügung. Später, am Nachmittag, würde sie sich an die vernachlässigte Arbeit setzen. Ganz sicher.

 

„Kommen Sie“, sagte Isabel und berührte die Frau flüchtig am Arm, „hier entlang.“ Sie registrierte ihre teure Kleidung, den guten Haarschnitt. Sie musste erst kürzlich beim Friseur gewesen sein. Solche Frauen mochte Isabel, fand sie attraktiv und sexy. Beinahe hatte sie vergessen, wie es war, jemanden sexy zu finden. Je öfter sie hinsah – möglichst unauffällig –, desto besser gefiel ihr die Fremde und sie spürte einen sonderbaren Hauch von Anziehung. Plötzlich schämte sie sich für ihre eigene Frisur.

 

Isabel schritt voran und die Fremde folgte ihr bereitwillig, als würden sie sich gut kennen. Zwischendurch betonte sie immer wieder, das sei doch nicht nötig, ihr sogar unangenehm, sie würde Isabels kostbare Zeit rauben, denn war Zeit nicht immer kostbar? Und wie wirke das überhaupt? Als fände sie sich nicht zurecht, als wäre sie eine orientierungslose Greisin.

 

„Wie eine Greisin sehen Sie nicht gerade aus“, sagte Isabel und erntete ein Lächeln. Sie schätzte ihre neue Bekanntschaft auf Ende vierzig. Sie fragte sich, wie ihre Haare wohl rochen und erschrak über solch einen unpassenden, intimen Gedanken. Seit Isabels Geruchssinn zurückgekehrt war, war sie begierig auf Gerüche, wurde aber meistens enttäuscht. Außer frisch gebrühtem Kaffee, der Erinnerung an die Haut einer fernen Geliebten, die es in ihrem Leben nicht mehr gab, neuen Wildlederschuhen und frischem Brot rochen die meisten Dinge abstoßend und schlecht, viel schlechter, als sie es vorher je wahrgenommen hatte. Seit sie wieder riechen und schmecken konnte – ganz plötzlich war diese Fähigkeit zurückgekehrt, so plötzlich, wie sie sie zuvor verloren hatte –, suchten diese beiden Sinne ein Ziel. Vanilleeis auf der Zunge, woraus sie sich früher nie etwas gemacht hatte, war eine neu entdeckte Heimat. Doch ihrer Nase fehlte Genuss. Endlich Genuss.

 

„Vielen Dank“, sagte die Fremde, als sie das Museum erreicht hatten.

 

„Ich komme noch mit hinein“, sagte Isabel. Längst hatte sie den Plan gefasst, die galante Begleiterin nicht nur bis zur Tür, sondern bis in die Ausstellung zu spielen. Ein Aufschub. Eine kleine, gestohlene Stunde. Nein, eine unverhofft geschenkte Stunde. Das schlechte Gewissen sollte warten und Ruhe geben.

 

Sie fragte sich kurz, ob sie sich so benahm wie herrenlose Hunde in südeuropäischen Ländern, die zufällig vorbeikommenden Touristen auf Schritt und Tritt folgten, Plagegeister mit treuen Augen, die man einfach nicht abschütteln konnte. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie in Berlin zu Hause war. Die fremde Frau, das hatte sie ihr unterwegs erzählt, war für ein paar Tage zu Besuch und wohnte im Münsterland. In der Provinz. Sie kannte sich nicht aus. Isabel folgte ihr nicht – Isabel gab den Weg vor. Sie war die Führende. Vielleicht war die Fremde sogar ein bisschen auf sie angewiesen. Dieser Gedanke gefiel ihr.

 

„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte die Fremde.

 

„Isabel.“

 

„Isabel“, wiederholte die Frau, die sich als Johanna Feldhaus vorstellte und damit nicht mehr ganz so fremd war. Sie hatte jetzt einen Namen. Und sie hatte Isabels Namen ausgesprochen. Klangvoll und weich. Nicht sogar zärtlich? Sie hatte einen Wohnort. Auch ihre Stirn, wie die aller Menschen, hätte oben am Haaransatz einen besonderen, einzigartigen Geruch, doch Isabel würde ihn nicht einatmen, genauso wenig wie den ihres Haars. So schnell, wie sie aufgetaucht war, würde Johanna Feldhaus verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Isabel würde wieder an ihre Dissertation denken, ihre Lebensberechtigung, vielleicht noch eine weitere alte Frau sehen, die die Treppen kaum schaffte und nicht wagte, bergab zu gehen, und der Freitag würde vor sich hinkränkeln.

 

„Wollen Sie wirklich mit reinkommen?“

 

„Unbedingt. Ich wollte diese Ausstellung immer schon sehen, aber ich kam nie dazu. Zu viel zu tun. Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

 

 

„Im Gegenteil. Ich würde mich freuen.“ Johanna Feldhaus stand so nah bei ihr, dass Isabel ihr Parfüm roch, das Waschmittel, das sie benutzte, nur leider nicht ihre Haare. „Nein, lassen Sie Ihr Geld stecken“, sagte Johanna. „Ich lade Sie ein.“

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke