Udo Rabsch: Maria vom Schnee. Roman

Leseprobe


Ich denke oft an Maria, deren Körper roch wie der Herbst an einem glühend heißen Tag. Ich denke an sie und an diesen Tag, Anfang November neunzehnhundertfünfundfünfzig mit den bunten Ballonen der Baumkronen im Himmel, Schwärmen von Wespen auf den schwarzen gärenden Äpfeln im Gras, der plötzlichen Kälte am Wassergraben. Es war ungewöhnlich heiß für November.

 

Ich war noch immer elf Jahre alt, als ich am Dreiecksee mit einem aufgepumpten Gummireifen herumplantschte und nur an ihren Körper dachte, der hundert Meter weiter unten, am Birkenwäldchen, mit dem mächtigen Körper des Bürgermeisters spielte, sie lachte und hatte ihn beim Vornamen gerufen und mit der Hand so komisch gewunken, nachdem sie vorher geschrien und geweint hatte, als er hinter ihr hergerannt war, furchtbar geschrien und geweint hat sie, aber was hätte ich dagegen tun können. Ich schlich mich an den Haselnussbüschen entlang zum Feldweg zurück, nahm den Stecken, stellte den Reifen wieder auf, der größer war als ich, und rollte ihn Richtung Dreiecksee, er brauchte ordentlich Schwung, um über die Grasbüschel und Feldsteine zu kommen ohne umzukippen. Von den Platanen an der Südseite des Sees wehte ein gleichmäßiger Schleier aus Blättern aufs Wasser, das schwer und sumpfig war von der modernden Blätterdecke, ich konnte den Reifen kaum vorwärts bewegen, meine paddelnden Hände griffen in die glitschigen Blätter und ich fürchtete mich davor, auf Krötenrücken oder Wasserschlangen zu stoßen. So ruderte ich wieder zu dem Platz zurück, wo meine Kleider lagen. Da war sie, die Maria. Sie hatte die Hand über die Augen gelegt, weil die Sonne und das Wasser sie blendeten.

 

„Ach du bist es“, sagte sie, als ich gegen die Böschung stieß, „lässt du mich mal in deinen Reifen?“

 

„Ja“, murmelte ich verlegen und stieg vorsichtig herunter, weil die Böschung steil und lehmig war und durch die vielen Füße der Badenden im Laufe des Sommers tiefe Abdrücke bekommen hatte. Maria hatte schon ihre Bluse ausgezogen, darunter hatte sie nichts an, und sie band ihren Rock nachlässig hoch, sodass ich wieder das schwarze Haarbüschel sah.„Man muss vorsichtig sein“, murmelte ich. „Hilfst du mir“, sie stützte sich auf meine Schulter, und ich bekam den Geruch ihrer Achsel ab. Es müsste noch der Schweiß des Bürgermeisters zu riechen sein, war aber nicht. Ich atmete tief, als wäre ich vom Rudern und Herausklettern noch außer Atem. Im nächsten Moment rutschte sie ab und riss mich mit.

 

„Hilf mir, hilf mir“, schrie Maria lachend und schlug ihre Arme um mich. Das Wasser schäumte auf und unsere nach Grund suchenden Füße wühlten in den Lehmröhren, in denen wir schließlich stecken blieben. Das Wasser um uns herum färbte sich dunkelbraun. Der schmutzige Fleck breitete sich aus, als wäre etwas geplatzt und das braune Blut eines unbekannten Unterwassertieres stiege herauf, träge und zögernd, in immer dunkleren Stößen. Ich hatte still und verbissen gegen das Einsinken gekämpft, aber Maria lachte, und dann war sie plötzlich ruhig und schaute mich an, unsere Augen waren auf gleicher Höhe. „Und wie kommen wir hier wieder raus?“

 

Sie prustete los. Sie kicherte die ganze Zeit, wir brauchten lange. Wir bespritzten uns von oben bis unten mit dem glitschigen Morast. Am Ufer des Dreiecksees, in der ersten Novemberwoche neunzehnhundertfünfundfünfzig, berührte ich zum ersten und einzigen Mal ihre Schultern und ihre Arme, ich berührte auch ihre Brüste, aber nicht so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Wir tobten nur albern herum. Unter anderen Bedingungen, mit Spielkameraden oder mit meiner Schwester, hätte ich auch gelacht und gejohlt, aber jetzt, in der einzigen heftigen und ganzen Umarmung mit der schönsten Frau der Welt, einer Umarmung von fast Ertrinkenden, jetzt spürte ich in mir den Liebesernst des werdenden Mannes.

 

Maria lachte über mich, über uns, den Lehm, unsere lehmverschmierten Gesichter, die Kriegs-bemalung auf ihrer nackten Haut, den ernsten zappelnden Jungen in ihren Armen. Und ich war enttäuscht von meinen Bewegungen, die zu einem planschenden Betrunkenen passen mochten, aber nicht zu mir, der ich tastende Botschaften an Maria übermitteln wollte und nur wie blind auf ihr herumtrommelte. Ich hatte mir immer vorgestellt, in sie hineinzufassen wie in einen abendlichen Lichtstrahl, denn mehr Gewicht konnte doch an so einer Schönheit nicht sein, weil sie durch meine Seele flog wie eine Wolke.

 

So leicht müsste Schönheit sein, dachte ich, während ich an ihren Schultern und an ihren Armen und ohne es zu wollen auch an ihrer nassen Brust hantierte wie ein Entsetzter. Warum hatte ich mich diesen Verrenkungen aussetzen müssen, wo ich doch beinahe eins war mit Marias gelenkigem Körper. Auf dem niedergetretenen Gras unter den Platanen hätte ich genug Halt gehabt, um mich zu kontrollieren und ihr die Zartheit von Männerhänden zu beweisen.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke