Eineinhalb neue Bücher, von Claudia Gehrke

Eben kam es aus der Druckerei, mit dem Duft der Buchstaben, des Papiers, als wäre es noch warm. Jedes Mal wieder überkommt mich ein Glücksgefühl, ein frisch gedrucktes Buch zum ersten Mal durchzublättern. Die Farbe auf den Eingangsseiten ist anfassbar, als wäre sie aufgemalt. Sie leuchtet schöner als auf dem Bildschirm.

 

Fast immer finden sich beim ersten Blättern auch Fehler, die bei allen Korrekturdurchgängen niemandem aufgefallen sind. Oder etwas, was niemand vorher sehen konnte, was sich nur im Druck zeigt – wie eine nicht eingebettete Schrift, die für übertrieben zart gedruckte Lauftitel sorgt. Das Glücksgefühl bekommt kleine Risse, lässt sich aber nicht vertreiben. Ich korrigiere die gefundenen Kleinigkeiten in der Druckvorlage – für eine eventuelle zweite Auflage. Bücher sind nie wirklich fertig; nicht nur wegen der übersehenen Fehler, die sich in allen gedruckten Büchern finden lassen; sondern auch, weil sie, gerade wenn sie sich „offenen" und kontroversen Themen widmen, zum Weiterdenken und Weiterschreiben anregen. Bücher erzeugen neue Bücher, aus denen wieder neue Bücher entstehen. Das ist nicht nur ein Prinzip des frischen Buchs „Weltsprache Literatur", sondern auch meine Erfahrung aus 40 Jahren Verlagsgeschichte.

 

Nach der ersten Einrichtung des Layoutdokuments dieses Buchs hatte sich das Manuskript in endlosen Nachtarbeiten von Autor und Lektor immer wieder verwandelt, der Autor schrieb etwas hinzu, der Lektor wob es in den Text ein, im Layout tauschte ich aus, es verschoben sich Text und Abbildungen. Im Inhaltsverzeichnis haben ein paar Zahlen die Änderungen nicht mitgemacht, obwohl ich mir einbildete, es gründlich angepasst zu haben. Auf einer Seite ist eine Zeile zu viel – ich hatte den Rahmen, in den der Text fließen sollte, nach unten zu weit aufgezogen.

Beim Blättern sprang mir neben den kleinen Fehlern auch das „Fehlende“ ins Auge – und in jedem Buch fehlt etwas, sonst gäbe es ja nur ein Buch – das, woraus ein neues Buch entstehen könnte. Ich wusste es schon vor Drucklegung. Ein Traum, wäre ich nicht Verlegerin, sondern Autorin, es zu schreiben. Wie Literatur ein weltweites Netz knüpft, in das sich alle Autorinnen und Autoren hineinschreiben, davon erzählt „Weltsprache Literatur“. Viele Figuren aus der Literatur, auch wenn wir diese Bücher nicht gelesen oder in Schule bzw. Studium gelesen und wieder vergessen haben, sind uns vertraut wie lebendige Bekannte, oft solche aus der Vergangenheit. Auch viele weibliche Figuren tauchen auf. Von einigen Texten ist das Geschlecht der Urheber unbekannt. Die meisten der vorkommenden Bücher sind von männlichen Autoren verfasst.

 

Das neue, noch ungeschriebene Buch, von dem ich beim Blättern träumte, würde die in diesem Buch verborgenen weiblichen Fäden des Netzes weiterzuschreiben versuchen. Es würde von den Autorinnen, die zu den sogenannten Mystikerinnen zählten, handeln, von Hildegard von Bingen und anderen aus der Zeit zwischen 1000 und 1300 n. Chr., von Texten, die von ekstatischen Erfahrungen und den Techniken, dahin zu gelangen, erzählen, er würde einen Bogen spannen von den damals religiös konnotierten Experimenten hin zu heutigen im Bereich der Selbsterfahrung oder sexueller Szenen. Das Kopfkissenbuch von Sei Shōnagon käme vor und Margarete von Navarra und ihre die Doppelmoral der Gesellschaft und der Kirche offenlegenden Novellen. In einer erzählt sie von seltsamen Jungfrauenproben eines Priesters, den eine Mutter entlarvte. All das lässt sich in die Gegenwart hinein weiter erzählen.

 

Und dann die tausende Seiten dicken Romane (z.B. „Clelia“) von Madeleine de Scudéry, eine Autorin aus dem 17ten Jahrhundert, zu ihrer Zeit viel gelesen. Sie erzählt von Kommunikation und Liebesverwicklungen, von Tricks, sich zu treffen und miteinander zu reden und Gefühlszustände auszudrücken, von Lebens- und Liebesspielen und von Freundschaft. Sie blieb ledig, kämpfte für die Gleichheit der Geschlechter und ging davon aus, dass „man zur gleichen Zeit mit derselben Vollständigkeit mehrere Personen lieben kann“. Ich kann mich heute noch an das Gefühl erinnern, vor inzwischen Jahrzehnten bei einer Recherche dieses alte Buch in der Tübinger Universitätsbibliothek in den Händen gehalten zu haben, ein sehr kleines Format, dünnes, schön knisterndes Papier. Und der Duft nach hunderte Jahre altem Buch. Auf diese Autorin bezogen sich spätere Autorinnen, und weiter ließe sich eine Brücke finden in die Gegenwart mit ihrem endlosen digitalen Reden … damals waren es endlose Briefwechsel. Die Verfasser*innen kannten sich oft nicht persönlich … Die Schwestern Brontë, Djuna Barnes: „Nachtgewächs“, Marlen Haushofer: „Die Wand“, Virginia Woolf, Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Gertrude Stein, Ingeborg Bachmann: Malina, und so weiter bis in die Gegenwart …

 

Claudia Gehrke

 

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