Gestern Morgen war es endlich soweit: Meine Mutter erhielt ihre erste Covid-19-Impfung. Dass es dazu kam, grenzte fast schon an ein Wunder – meine Lebensgefährtin und ich hatten vorab zusammen insgesamt knapp 900 Mal (!) die niedersächsische Hotline für die Vergabe von Terminen angerufen, bis es tatsächlich gelang, meine Mutter auf die Warteliste zu setzen.
Meine Freundin war dann diejenige, die sich diesen schönen Erfolg zuschreiben konnte, ich selbst war zwar nach ungefähr 700 Anrufen, bei denen nur das Besetztzeichen zu hören gewesen war, tatsächlich durchgekommen und hing dann hoffnungsvoll gut 15 Minuten in der Warteschleife, aber als die junge Dame am anderen Ende der Leitung schließlich zu sprechen war, konnte sie mich aus technischen Gründen nicht verstehen und legte am Ende wieder auf.
Nun, das war jetzt Vergangenheit. Am Vorabend hatte meine Mutter mir sämtliche ihr vorab zugesandten Unterlagen und Formulare in allen Einzelheiten vorgelesen (was Tagesthemenlänge umfasste), alles sorgfältig ausgefüllt und unterschrieben und bereitgelegt, zusammen mit ihrem Ausweis und dem Impfausweis.
Nun reihten wir uns um fünf Minuten vor halb elf (unser Termin war um 10.30 Uhr angesetzt, um pünktliches Erscheinen wurde gebeten) in eine denkbar seltsam anmutende Warteschlange ein, bestehend aus alten, zumeist grauhaarigen Menschen in Begleitung von zumeist ebenfalls grauhaarigen, jedoch zwanzig bis dreißig Jahre jüngeren Söhnen oder Töchtern. Langsam und ungleichmäßig bewegte sich die Schlange vorwärts. Die meisten über 80-Jährigen gingen selbstständig, wenn auch oft recht wackelig, einige hatten sich bei ihren Begleitpersonen eingehakt, wieder andere schoben einen Rollator vor sich her, hie und da fuhr auch jemand im Rollstuhl oder in diesen modernen, in den nahen Niederlanden vor allem bei Übergewichtigen jeglichen Alters sehr beliebten elektrischen Rollmobilen.
Am zweiten Kontrollpunkt (oder besser gesagt, Service-Point) hakte ein junger, fröhlicher Mann, der sich grundsätzlich an die Begleitpersonen wandte, Namenslisten ab. Hier erklärte sich dann auch die lange Warteschlange, denn nahezu alle Impfwilligen waren nicht pünktlich, sondern überpünktlich erschienen. „Sie sind auch für 11h angemeldet?“, fragte der junge Mann mich und machte, als meine Mutter (die durchaus noch gut hören, sehen und sprechen kann) das verneinte, ein erstauntes Gesicht und blätterte aufgeregt in den Listen, bis er die 10.30 Uhr-Liste fand, auf der ausschließlich der Name meiner Mutter nicht schon abgehakt war.
Dann ging es ein paar Schritte weiter, wo bei uns beiden zunächst Fieber gemessen wurde. Hier wiederum machte die junge Dame ein erstauntes Gesicht, als die Messung bei mir schlappe 34 Grad anzeigte. „Das hatte ich hier noch gar nicht!“, rief sie, und sogleich fühlte ich mich aus der Art geschlagen und eher den Kaltblütern zugehörig. Zwei Meter weiter reichte die nächste junge Dame mir einen Stift, den ich zügig an meine Mutter weitergab (die durchaus noch gut lesen und schreiben kann), damit sie ein Formular unterschreiben konnte.
Sodann ging es weiter in einen Wartebereich, wo wir uns auf zwei Stühle setzen sollten, um zwei Minuten später auf die nächsten zwei Stühle aufzurücken. Kaum saßen wir wieder, wurden wir schon ins Zimmer zum Arztgespräch gebeten, wo eine junge, schlanke Ärztin mich fragte, ob wir noch Fragen hätten. Meine Mutter (die durchaus noch sehr gut bei Sinnen ist), verneinte, woraufhin wir in den Raum gegenüber geschickt wurden, in dem schon eine weitere junge Dame mit den Impfutensilien bereitstand. Ich half meiner Mutter, ihren Pullover am Hals aufzuknöpfen (dazu ist meine Mutter tatsächlich nicht in der Lage, aber ich wäre es auch nicht, wenn ich diesen Pullover anhätte, da die Knopfreihe nach hinten versetzt liegt), dann setzte die junge Dame die Spritze, tupfte die Einstichstelle ab und schickte uns wieder hinaus in einen Warteraum, wo schon andere Geimpfte mit ihren Begleitpersonen Platz genommen hatten.
Eine weitere junge Dame nahm mir die Unterlagen ab, stempelte und notierte in rasender Geschwindigkeit diverse Papiere und reichte mir die Unterlagen wieder zurück, die ich dann meiner Mutter weiterreichte, die sie in ihre Handtasche steckte.
Wir mussten fünfzehn Minuten zur Beobachtung da bleiben, fünfzehn Minuten, in denen ich neugierig die Umsitzenden betrachtete. Irgendwie hatten sich alle Impfwilligen fein angezogen, so viele Barbourjacken, Daunenmäntel, akkurat um den Hals gelegte Tücher und auf Hochglanz polierte Herrenschuhe habe ich selten auf einem Haufen gesehen, jedenfalls nicht in der Kombination mit grauem oder weißem Haar und vom Alter gebeugtem Rücken. Deutschlands Senioren sind, wenn die impfwilligen über 80-Jährigen in der Emsland-Arena in Lingen als Maßstab gelten, in der Regel gut situiert, gepflegt und überpünktlich.
Ihre Begleitpersonen gaben ein weniger homogenes Bild ab; einige guckten ein wenig genervt oder peinlich berührt, und die meisten redeten entweder gar nicht mit ihren Eltern oder wenn, dann in gehobener Lautstärke und einem leichten, nur mühsam unterdrückten Tadel in der Stimme.
Als wir schließlich gehen durften, wartete an der Tür eine Mitarbeiterin der Polizei auf uns, die mir einen Flyer über den Enkeltrick in die Hand drücken wollte. Ich reichte ihn an meine Mutter weiter, die ihn später durchlas und sagte, sie habe manchmal das Gefühl, man nähme die alten Leute nicht mehr für voll: „Ich glaube manchmal, die denken, wir sind alle bescheuert!“
Ich würde es so nicht unbedingt ausdrücken, aber meine Mutter liegt, glaube ich, nicht falsch. Alle waren unglaublich nett und freundlich, aber zugleich behandelten sie die betagten Impfwilligen wie unmündige Wesen, die ohnehin nichts mehr verstehen. Irgendwie macht mich das traurig.
Aber vielleicht ist meine Temperatur auch einfach zu niedrig.
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Kerstin (Mittwoch, 10 März 2021 17:31)
Moin!
Hach, der Text hat mich an der ein oder anderen Stelle laut zum Lachen gebracht, danke dafür.
Das erinnert mich doch sehr an den Chorleiter meiner Mum. Zu den traditionellen Mitmach-Frühjahrs- und Weihnachtskonzerten, die beinahe durchweg von Grau- bis Weißhaarigen besucht werden, unterstützt noch von ein paar Kindern der Sängerinnen und Sänger, die auch schon grau werden, und manchmal und vereinzelt noch von deren Kindern, animiert er die meist alten Leute in einer Art und Weise, die mich an einen Kindergärtner erinnert. Nicht an einen Erzieher, die sind meines Erachtens ernstzunehmender...
Der Absatz über die Begleitpersonen und deren tadelndes Gehabe allerdings lässt mich nachdenklicher zurück, denn ich neige ab und an auch noch zu solch einem Verhalten - es ist aber schon deutlich besser geworden. Glaube ich.
Der Satz Deiner Mum hätte jedenfalls auch von meiner kommen können. Das muss ein schlimmes Gefühl sein, nicht mehr wie ein mündiger Bürger behandelt zu werden.
Liebe Grüße
Kerstin
Schweinert, verena (Sonntag, 14 März 2021 15:22)
Hallo Frau Fessel,
ja, ist nicht schön, wenn ältere Menschen unmündig behandelt werden. Auf der anderen Art versteh ich aber auch nicht, wenn sie auf die berüchtigten "Enkeltricks" hereinfallen. Da hält sich dann mein Mitleid doch in Grenzen, fällt mir zu dem Thema ein. Dann ist doch schon eine Betreuung fällig. Einsamkeit hin oder her. Das würde mir auchmit 80 Jahren nicht passieren !!
Liebe Grüße verena �ert�♀️
Irmgard (Mittwoch, 24 März 2021 10:34)
Moin, ich bin die letzten Tage in so ziemlich jede Coronafalle gefallen, außer selber zu erkranken, davor schütze mich meine Impfung, die ich als Impfärztin schon im Januar bekam, wir nutzen die überzähligen Spritzen am Ende des Tages, die sonst hätten verworfen werden müssen. Biontec. Mein Sohn rief mich vor einer Woche an, ob er zu mir kommen könnte, ich sei doch geimpft, er flmüsse vor der Coronagefahr in seiner WG flüchten. Das bekam er dann bei mir und wir sassen beide in der Quarantänefalle, ich 4 Tage länger als er. Mein Mann hat sich, weil über 80, sehr früh um die Impfung bemüht, auch ohne große Probleme einen Termin bekommen, auf einenen Füßen hingefahren. Dann ereilte ihn das Schicksal, ein sehr schwerer Herzinfarkt erforderte ein Pflegeheim, die zweite Impfung bekam er im Heim, ich kann ihn wegen der Quarantäne nicht besuchen, das hat ihn schwer getroffen, manchmal weiss er aus Mangel an Kommunikation nicht mehr wo er ist, vielleicht reichen die Träume dann auch zu weit in den Tag hinein.
Bei meiner Arbeit im Impfzentrum ist mir auch aufgefallen, dass manche jungen Ärzte die Alten wie Auslaufmodelle behandeln, so als lohne es sich nicht wirklich mehr. Seltsam der Gegensatz zu der von den Politikern geäußerte Wille sie alle zu retten auch wenn sie nur noch ein halbes Jahr zu leben hätten, man fragt sich, was ist, wenn es weniger ist? Sterben nicht auch Junge manchmal innerhalb eines halben Jahres?
Wir sind mit dem DRK durch viele Altersheime gezogen, mein Eindruck ear ein sehr positiver, gegen meine Vorurteile, und auch jetzt, wo mein Mann im Heim ist finde ich, dass das Personal seine Sache besser macht als es dafür Anerkennung, finanziell wie gesellschaftlich, bekommt. Was ist mit dieser Gesellschaft los? Traut sie sich nicht zuzugeben, dass sie eigentlich kein Interesse an den Alten, Kranken und sonstwie engeschränkten Menschen hat? Deswegen die Überreaktion? Diese Verkindlichung, die man ja auch in Psychiatrien erleben kann ist deutlich sichtbar ein neurotisches Symptom, vermutlich einer unbewußten Aggression. Wir Alte hindern die Jungen am ungestörten Leben, sind Kosten und Anstrengung. Nur die Liebe zu uns könnte eine andere Einstellung bewirken als eine Pflicht abzuarbeiten die einem nicht wirklich einleuchtet, aber gibt es sie in genügendem Ausmaß? Palmers Satz klang auch in den verschiedenen Wiederholungen in den Talkshows doch zu sehr genau danach. Was haben wir zu erwarten, wenn der Schuldenberg zur Bürde wird, der sich jetzt auftürmt? Wird es ein Nachcorona überhaupt geben, oder werden wir dann die nächsten Einschränkungen erleben für einige, es gilt ja nie für alle, die mit Ferienhaus im In- und Ausland waren immer wenig eingeschränkt, je größer umso weniger.
Was passiert politisch grade? Sind wir uns dessen bewußt, ich habe nicht den Eindruck.
Liebe Grüße, Irmgard