Verstummte Theater. Schlafende Arthaus Kinos. Und wie gerne würde ich endlich mal wieder vor einem echten Publikum lesen.
Und schon öffnen sich die Tore, und alles um mich herum wird bunter und lauter und schrill.
Wie oft sehne ich mich nach der Zeit nach Corona. Doch es stimmt mich auch ein wenig wehmütig, so sehr habe ich mich an diese leise gewordene Welt gewöhnt. An diesen sanften Zustand, der mir gut tut, obwohl mir so vieles fehlt. Insgeheim wünsche ich mir, die Welt würde auch nach Corona nie wieder so laut sein wie davor.
Neulich habe ich gelesen: Nach Corona wird ein Lebensgefühl wie in den Zwanziger Jahren ausbrechen.
Nun – wir befinden uns bereits in den Zwanziger Jahren. Den Zwanziger Jahren des dritten Jahrtausends. Wohin werden sie uns führen? In was für neue Dreißiger Jahre?
Weil mich das sehr beschäftigt, werde ich darüber in meinem übernächsten Roman schreiben. Mein nächster wird ein Thriller mit „Mystery“-Elementen, der nach einer Pandemie spielt. Ein Stoff, zu dem es die Autorin in mir ohne Corona wohl niemals gedrängt hätte.
Die andere in mir, der „Coach“ – gibt es eigentlich eine weibliche Bezeichnung für Coach? – lässt sich in Trauma-Heilung ausbilden. Sanfte Trauma-Heilung durch Berührung. Ein Kapitel meines Lebens, das Corona wegen der Abstandsregeln erst mal zugeschlagen hat.
Und jetzt – was nun? Der Schwenk ins Online Business? Ins Social Media Business?
Wie soll z.B. Familienstellen online funktionieren?
Mir kommen dafür schon erste Ideen.
Aber die massive Strahlung der technischen Geräte tut mir nicht gut. Das Affenzahn-Tempo der Social Media. Die Unruhe, weil immerzu ein Pop Up piept oder eine neue Nachricht surrt oder klirrt. Das zerfasert mich. Das will ich nicht rund um die Uhr, denn ich will vor allem: Schreiben. Doch es fällt mir schwer, mein Handy auch mal ausgeschaltet zu lassen. Mein Handy hat einen Sog, der sich nicht mehr gesund anfühlt, und den es vor Corona so nie gehabt hat.
Erst die Natur, Stille und wirkliche Begegnungen mit Menschen bringen mich dann wieder zu mir zurück und zum Schreiben.
Manchmal aber auch ein Traum, denke ich, als das Morgenlicht hinter der Fensterscheibe einen Riss bekommt, einen roten Riss. Rot wie die Verheißung auf einen ganz besonderen Tag oder wie eine Warnung? Frage ich mich, im ICE, auf dem Weg zu meinem Vater, in diesen Augenblicken.
Papa, der auch seinen zweiten Herzinfarkt überlebt hat.
Mit Trick siebzehn schleiche ich mich gerade von einer heimlichen Reise nach Berlin auf diesem Schleichweg weiter zu dir, Papa, um dich in meiner Geburtsstadt Halle zu besuchen.
Seit Wochen freue ich mich darauf, und jetzt, zehn Kilometer vor Halle, kommt mir alles so unbeschwert vor, als hätten wir uns wegen der immer noch andauernden Reisebeschränkungen kein Dreivierteljahr lang nicht mehr gesehen.
Seit ich über vierzig bin verabschieden sich immer mehr Menschen aus meinem Leben in den Tod. Meine Mutter. Mein bester Freund. Eine Geliebte. Ein Geliebter. Meine 21jährige Katze Kiu.
Inzwischen habe ich zwei neue junge Maine Coonies, Bella und Zahira, mit denen ich viel mehr Zeit verbringe als einst mit Kiu, was ich mir noch nicht zu verzeihen schaffe. Bella und Zaphira, die ich so viel mehr sehe, weil ich mich inzwischen mehr sehe. Sie sollen ewig leben.
Ewig wie du, Papa.
Du bist Risikopatient und ich bin Risikopatientin.
Wir beiden sind die letzten Übriggebliebenen aus meiner Kernfamilie. Lass uns einander vorsichtig begegnen.
Seit Corona lebe ich mit dieser Mischung aus Vorsicht und Mut. Liebe stärkt unser Immunsystem.
Da ich Menschen seit jeher am liebsten unter vier Augen treffe, bedeuten die Corona-Kontaktbeschränkungen für mich keine große Veränderung. Es gibt nur wenige Partys, auf denen ich mich wie ein Fisch im Wasser fühle. Allein dadurch schütze ich mich vor Ansteckung, und selbstverständlich würde ich dich, Papa, niemals mit Erkältungssymptomen besuchen.
Und endlich fährt mein ICE in Halle ein.
Du stehst nicht am Bahnsteig, um mich abzuholen.
Du wirst nie wieder am Bahnsteig stehen, weil du keine längeren Strecken mehr mit dem Auto fahren sollst. Und das ist gut so. Schone dich.
Und doch ist abermals eine Ära zur Neige gegangen. Dieses jähe Bewusstwerden: Etwas wird nie wieder geschehen. Die feine Trauer in mir. Ein ziehender Schmerz. Ein uraltes Gefühl. Viel zu früh in meinem Leben war ich damit konfrontiert worden, so frühzeitig, dass es mich völlig überfordert hat.
Jetzt mitten da durch. Tränen drängen in mir hoch, und das, wo ich seit einer Ewigkeit fast nur noch nach innen weine.
Tränen, weil ich meine Heimat zu lange verleugnet hatte. Weil ich, bevor ich mich auf meinen „Heilungsweg“ gemacht habe, Halle verdrängt hatte – verdrängen musste.
Jetzt erscheint die Stadt mir voller Unschuld, und als würde sie die Arme nach mir ausstrecken, und ich bewege mich auf diese Arme zu mit einem Lächeln.
Und steige in die Straßenbahn, die fährt durch die bunt angestrichenen Straßen meiner Kindheit. Straßen, durch die ich als Kind mit meiner Oma gestromert bin. Und ich schmiege mich an Halle im Geist. Wissend, dass wir, ohne unsere Wurzeln anzunehmen, Fremde in dieser Welt bleiben. Zumindest ein Stück weit. Ein Zustand, den ich nicht wieder erleben will. Es wird stiller, je mehr ich mich deiner Wohnung nähere. Schließlich ist da nur noch Wald. Jurassic Park. Umgestürzte alte Bäume. Entwurzelte hunderte Jahre, so sehr wüten bei euch nachts immer wieder Orkane, erzählst du. Was für ein Stillleben. Die Waldarbeiter scheuen die Aufräumarbeiten, da die von den jüngsten Stürmen verletzten Bäume jederzeit auf den Boden krachen können. Ich schummele kurz mit meiner FFP2-Maske, ich kann nicht anders. Ehrlich. Ich kriege kaum Luft unter dem Ding. Der Sauerstoffmangel macht mich müde. Ein Wunder, dass mein Schummeln keinem der anderen Fahrgäste auffällt. Niemand blickt zu mir. Und nur die Astrologin in mir weiß: Mit Neptun im dritten Haus kann ein Mensch sich unsichtbar machen.
Und dann stehe ich vor dir und deiner lieben Frau und wieder schießen in mir Tränen empor und schaffen es nicht aus meinen Augen. Es ist ein Wunder, dass wir uns wiedersehen, Papa. Ein Wunder, dass wir 2019 unsere Erkrankungen überlebt haben.
Unsere Umarmung ist sehr zart. Transzendent fühle ich mich, und wie ein ätherisches Wesen fühlst du dich an. Ich könnte weinen und jubeln vor Glück.
Und jedes Mal macht uns unser Anblick ein wenig verlegen. So vieles könnten wir uns erzählen und können es nicht. Wie gerne will ich dich für immer in meinem Leben festhalten, obwohl viele Menschen sagen: Lass los.
Doch genau das fällt mir am schwersten: Loszulassen, wen und was ich liebe.
Ich bin schon froh, wenn es mir gelingt, nicht zu oft daran zu denken, dass ich dich nicht mehr mein Leben lang haben werde.
Und ich nähere mich dir weiter wie auf leisen Tatzen.
Du, der die Trauma-Heilerin in mir ins Leben gerufen hat. Weil du mich schon sehr früh dazu angefacht hast, Menschen auf die Spur zu kommen. Vor allem den Unbegreiflichsten. In ihr Innerstes zu spüren, so, wie ich erpicht darauf war, dich zu begreifen, in den ich vernarrt war. Als Kind wollte ich dich heiraten. Du warst mein Leben, das hat Mama eifersüchtig gemacht.
Für mich hat es sich einzigartig angefühlt.
Für immer will ich dich behalten und weiß, dass dieser Wunsch mir nicht erfüllt werden kann. Und genau deshalb will ich noch mehr Zeit mit dir verbringen.
Doch das Hotel, in dem ich vor Corona immer übernachtet habe, darf noch keine Zimmer an Touristen vermieten, und so bleiben uns diesmal nur ein paar Stunden.
Im Kopf krame ich schon nach der nächsten Gelegenheit, dich wiederzusehen. Notfalls abermals von Berlin aus, in das ich mich erneut von meiner Heimat am Bodensee schleichen würde.
Und schon halte ich mich an nächstem Monat fest: Obwohl ich in diesen Sekunden bei dir bin.
Lebe den Moment, Jeannette!
Wieso lebe ich fast nie den Moment?
Wieso lebe ich entweder im Gestern oder Morgen?
Wie gerne würde ich dich ganz fest an mich drücken. Doch erscheinst du mir zu zerbrechlich dafür, denn ich bin eine Wucht. Eine Wucht an zu vielen, für dich zu heftigen Emotionen. Emotionen, an die du nicht erinnert werden willst, und nicht erinnert werden sollst, und das ist gut so. Annehmen – lieben, was ist. Bis zum nächsten Mal in Halle, der einst grauen Stadt, und heute ist von diesem Grau fast nichts mehr übrig.
Liebe bedeutet für mich, immer einen Weg zu finden. Etwas zu riskieren. Liebe ist, wenn Loslassen das Schwerste ist. Ich folge ihr um jeden Preis. Zu jeder Zeit.
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