Kim Amber: Allah wird dich strafen

Leseprobe


Der Vater des Jungen hatte Ellen Kant beauftragt, weiter zu ermitteln. Er vermochte es nicht, den Selbstmord seines Sohnes zu akzeptieren. Er wollte Gewissheit.

 

Daher hatten sie zur Schuldirektorin Kontakt aufgenommen.

 

„Machen Sie etwas, um gemeinsam mit den Kindern den Tod von Shayn zu verarbeiten?“

 

Die Fragen, die ich stelle, sind doch ganz klug!, dachte Sebastian befriedigt.

 

Matthaes nickte. „Wir reden sehr viel miteinander. Zunächst bin ich in die Klassen gegangen. Der Unterricht ist ausgefallen, und wir haben im Klassenverband gesprochen. Für viele ist es das erste Mal, dass sie so eine unmittelbare Erfahrung mit dem Tod und dem Sterben machen.“

 

So etwas macht also ein Sozialarbeiter?, fragte sich Sebastian in einem plötzlichen Anflug von Unbehagen. Mit Pubertierenden über den Tod und das Sterben reden? Er glaubte kaum, dass er so eine Rolle würde übernehmen können.

 

„Worüber reden Sie da denn so? Ich stelle mir das nicht gerade leicht vor.“

 

„Wir reden über den Tod, über die Angst vor dem Sterben und über den Verlust eines Menschen. Und wir reden auch über das, was sich alle insgeheim fragen: Ob einige von ihnen eine Mitschuld tragen, weil sie Shayn ausgegrenzt, geärgert und wohl auch gedemütigt haben. Ob sie etwas hätten tun können, um seinen Tod zu verhindern. Ob sie anders mit ihren Mitmenschen umgehen müssen. Auch mit denen, die sie vielleicht nicht sonderlich mögen.“

 

„Und diese Gören lassen sich auf so was ein?!“ Sebastian war sich nun sicher, dass er auffliegen würde. Wenn er an die pöbelnden Halbstarken dachte, die auf dem Schulhof herumlungerten ...

 

Matthaes lächelte. „Nicht alle. Und natürlich nicht sofort. Es bedarf viel behutsamer Arbeit, manchmal auch langer Einzelgespräche. Aber keine Angst. Es wäre verantwortungslos von mir, wenn ich Sie für diese Gespräche einsetzen würde.“

 

Sebastian blickte ihn überrascht an. Hatte der Mann ihn schon durchschaut? Aber dann beruhigte er sich: Kein vernünftiger Mensch käme auf den Gedanken, einen Detektiv mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Erneut fragte er sich, wie Ellen Kant das nur immer anstellte: Ganz egal, ob schwäbische Immobilienspekulantin oder amerikanische Handelsvertreterin, seine Chefin spielte ihre Rollen stets mehr als überzeugend. Er würde nie hinter das Geheimnis kommen.

 

„Wenn es Sie aber interessiert, kann ich Sie einmal mitnehmen. Zumindest die Mädchen fangen häufig sofort an zu reden. Sie sprechen aus, was ihnen auf der Seele liegt. Bei den Jungen ist es oftmals schwieriger. Aber ich mache auch reine Jungengruppen. Wenn sie unter sich sind, reden sie eher über die Gedanken und Gefühle, die der Tod bei ihnen ausgelöst hat.“

 

„Gibt es auch welche, die am liebsten gar nicht darüber reden wollen?“

 

„Sie meinen, ob sich welche verdächtig verhalten? Das ist schwer einzuschätzen. Einige der Jungen wehren sich einfach gegen alles, was mit Gefühlen zu tun hat. Das ist aber ganz natürlich, und ich denke nicht, dass sie dadurch verdächtig werden. Dann gibt es welche, die generell nicht viel reden. Aber auch sie können in der Gruppe Empathie an den Tag legen und sehr viel aus den Gesprächen mitnehmen.“ Er hob hilflos die Hände. „Ich kann so etwas nicht einschätzen. Aber dafür sind Sie ja jetzt hier. Sie haben bestimmt ganz andere Erfahrungen damit.“

 

Stimmt, dafür bin ich ja jetzt hier! Am liebsten hätte er aufgelacht.

 

„Wie wollen Sie mich denn in Ihre Arbeit einbinden?“, fragte er. „Ohne dass es auffällt.“

 

Diese sonderbare Arbeitsplatzbeschreibung hatte ihn skeptisch gemacht. „Ich könnte beobachtend teilnehmen“, fügte er hoffnungsvoll hinzu. „So heißt das doch, oder? Ich sitze einfach in der Ecke auf einem Stuhl und sage nichts.“

 

Doch Matthaes schüttelte den Kopf. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Zum ersten Mal wirkte dieses Lächeln weder müde noch erschöpft. In den aufblitzenden Augen erkannte Sebastian den Schelm, der dieser Sozialarbeiter einmal gewesen sein musste.

 

„Ich habe da schon eine Aufgabe für Sie!“, sagte er. „Ich habe mir etwas ganz Besonderes ausgedacht.“

 

Sebastian mühte sich, ebenfalls zu lächeln. Also nicht beobachtend teilnehmen, dachte er lustlos. Am liebsten wäre er einfach aufgestanden und gegangen. Sollte Ellen doch ihren Scheiß alleine machen!

 

Er wollte erst gar nicht wissen, was als nächstes auf ihn zukommen würde.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke