Leseprobe

aus Armin Bremicker / Peter Ertle


Bettkante

Der Tag war gelaufen. Schlagartig. Nadeen blickte in die Runde. Alle kamen ihr hässlich vor. Sie selbst kam sich hässlich vor. Dabei sah sie gut aus in ihrem eleganten, tief ausgeschnittenen blauen Kleid mit Schlitz. Viele sahen richtig gut aus. Ja, ein paar hatten danebengegriffen. Steffi wirkte wie die Wurst, die nicht ganz in die Pelle passt. Manuela hatte ihre Doc Martens gegen Highheels eingetauscht, in denen ihre magersüchtigen Beinchen baumelten, obenrum ihr Mauerblümchengesicht, das schon über den Doc Martens grotesk aussah, daran änderte auch dieses Outfit nichts. Aber die Mehrheit hatte Geschmack, bei vielen hatte sich Nadeen noch vor fünf Minuten gedacht: Mensch, was die aus sich machen kann! Aber seit Sigi und Meret aufgetaucht waren, war alles verhext. Es war, als hätten die danebengegangenen Outfits auch die gelungenen infiziert. Oder warum hatte sie das vorher nicht bemerkt? Warum kam sie nicht selbst drauf, von sich aus? Warum mussten Sigi und Meret es ihr zeigen? Die beiden Coolsten der Klasse, die Schönsten. Nadeen war sich gar nicht sicher, ob es die Schönsten waren, Daniela war sicher noch schöner. Aber Sigi und Meret machte ihre Coolness schön. Nur diese beiden konnten auf so eine Idee kommen. Sich zum Abiball ein schönes, luftiges, kariertes Sommerkleid anzuziehen – im Partnerlook. Beide underdressed. Aber nicht demonstrativ, keine Jeans mit Löchern, kein oversized Pullover, nein, ein schönes, aber eben eher schlichtes, kariertes Kleid. Eigentlich ein verdammt schönes Kleid, aber eben kein Abiballkleid. Sigi und Meret machten die Maskerade als Maskerade kenntlich. Eine Maskerade, die eben nicht nur Spaß, Spiel und soziale Verabredung war, das wäre ja schön gewesen, sondern Ambition, verbunden mit Tränen und Ängsten hinter den Kulissen, Germany’s next Topmodels beim Punktesammeln, Jugend paradiert mit Hoffnung auf Weiterleitung. Nur Sigi und Meret waren sie selbst und das ganz ohne Anstrengung, während alle anderen sich ins Zeug legten und strampelten. Auch Nadeen fühlte ihr Strampeln jetzt deutlich und unangenehm. Und dann noch dieses Streben nach Einzigartigkeit verhöhnen! Das war der Gipfel der Unverschämtheit, dass sie freiwillig taten, was allen anderen der Alptraum schlechthin gewesen wäre: Dass dein Kleid noch eine andere trägt. Mit diesem karierten Kleiddouble hatten sie alle blamiert. Wie raffiniert war das denn! Jetzt waren sie, Sigi und Meret, die beiden Auffallenden und Einzigartigen des Abends. Die Königsrolle musste es schon sein, darunter machten sie es nicht. Nadeen war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sich Sigi und Meret wirklich so viel dabei gedacht hatten, wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich machten die so was intuitiv. Wie sie beide hasste. Wie sie sie beneidete. Als wäre die eine das Spiegelbild der anderen. Warum waren sie nicht ihre Freundinnen, warum war sie nicht eine von beiden, und die andere ihre Freundin, warum hatte sie keine Freundin, mit der man so was machen, auf solche Gedanken kommen konnte? Warum kam sie selbst nicht auf solche Gedanken, sondern immer erst hinterher? Sigi, die mit 13 als Erste einen Freund gehabt hatte, Christoph, in den die Hälfte der Mädchen verknallt war, die andere Hälfte fand ihn blöd, was ungefähr das Gleiche war. Sigi, die schon mit 14 sagte, sie sei bi, mit Meret Händchen haltend, sie, Christoph und Meret eine Ménage-à-trois, unerhört war das. Meret, die Schulsprecherin, die bei den Broken Arrows sang, von der später das Gerücht ging, sie hätte was mit Oberstudienrat Becker, es war immer so eine Aura aus Gerüchten um sie, immer etwas Unerreichbares, eine andere Liga. Und jetzt, jetzt stahlen sie allen die Schau, kamen in diesem wunderbaren, einfachen Karokleid, das ihr sagte: Du bist eben nur Nadeen und du wirst immer nur Nadeen bleiben. Am liebsten wäre sie gegangen. Aber sie musste mindestens noch bis zur Zeugnisvergabe bleiben.


Karo

Der Tag war gelaufen. Schlagartig. Nadeen blickte in die Runde. Alle kamen ihr hässlich vor. Sie selbst kam sich hässlich vor. Dabei sah sie gut aus in ihrem eleganten, tief ausgeschnittenen blauen Kleid mit Schlitz. Viele sahen richtig gut aus. Ja, ein paar hatten danebengegriffen. Steffi wirkte wie die Wurst, die nicht ganz in die Pelle passt. Manuela hatte ihre Doc Martens gegen Highheels eingetauscht, in denen ihre magersüchtigen Beinchen baumelten, obenrum ihr Mauerblümchengesicht, das schon über den Doc Martens grotesk aussah, daran änderte auch dieses Outfit nichts. Aber die Mehrheit hatte Geschmack, bei vielen hatte sich Nadeen noch vor fünf Minuten gedacht: Mensch, was die aus sich machen kann! Aber seit Sigi und Meret aufgetaucht waren, war alles verhext. Es war, als hätten die danebengegangenen Outfits auch die gelungenen infiziert. Oder warum hatte sie das vorher nicht bemerkt? Warum kam sie nicht selbst drauf, von sich aus? Warum mussten Sigi und Meret es ihr zeigen? Die beiden Coolsten der Klasse, die Schönsten. Nadeen war sich gar nicht sicher, ob es die Schönsten waren, Daniela war sicher noch schöner. Aber Sigi und Meret machte ihre Coolness schön. Nur diese beiden konnten auf so eine Idee kommen. Sich zum Abiball ein schönes, luftiges, kariertes Sommerkleid anzuziehen – im Partnerlook. Beide underdressed. Aber nicht demonstrativ, keine Jeans mit Löchern, kein oversized Pullover, nein, ein schönes, aber eben eher schlichtes, kariertes Kleid. Eigentlich ein verdammt schönes Kleid, aber eben kein Abiballkleid. Sigi und Meret machten die Maskerade als Maskerade kenntlich. Eine Maskerade, die eben nicht nur Spaß, Spiel und soziale Verabredung war, das wäre ja schön gewesen, sondern Ambition, verbunden mit Tränen und Ängsten hinter den Kulissen, Germany’s next Topmodels beim Punktesammeln, Jugend paradiert mit Hoffnung auf Weiterleitung. Nur Sigi und Meret waren sie selbst und das ganz ohne Anstrengung, während alle anderen sich ins Zeug legten und strampelten. Auch Nadeen fühlte ihr Strampeln jetzt deutlich und unangenehm. Und dann noch dieses Streben nach Einzigartigkeit verhöhnen! Das war der Gipfel der Unverschämtheit, dass sie freiwillig taten, was allen anderen der Alptraum schlechthin gewesen wäre: Dass dein Kleid noch eine andere trägt. Mit diesem karierten Kleiddouble hatten sie alle blamiert. Wie raffiniert war das denn! Jetzt waren sie, Sigi und Meret, die beiden Auffallenden und Einzigartigen des Abends. Die Königsrolle musste es schon sein, darunter machten sie es nicht. Nadeen war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sich Sigi und Meret wirklich so viel dabei gedacht hatten, wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich machten die so was intuitiv. Wie sie beide hasste. Wie sie sie beneidete. Als wäre die eine das Spiegelbild der anderen. Warum waren sie nicht ihre Freundinnen, warum war sie nicht eine von beiden, und die andere ihre Freundin, warum hatte sie keine Freundin, mit der man so was machen, auf solche Gedanken kommen konnte? Warum kam sie selbst nicht auf solche Gedanken, sondern immer erst hinterher? Sigi, die mit 13 als Erste einen Freund gehabt hatte, Christoph, in den die Hälfte der Mädchen verknallt war, die andere Hälfte fand ihn blöd, was ungefähr das Gleiche war. Sigi, die schon mit 14 sagte, sie sei bi, mit Meret Händchen haltend, sie, Christoph und Meret eine Ménage-à-trois, unerhört war das. Meret, die Schulsprecherin, die bei den Broken Arrows sang, von der später das Gerücht ging, sie hätte was mit Oberstudienrat Becker, es war immer so eine Aura aus Gerüchten um sie, immer etwas Unerreichbares, eine andere Liga. Und jetzt, jetzt stahlen sie allen die Schau, kamen in diesem wunderbaren, einfachen Karokleid, das ihr sagte: Du bist eben nur Nadeen und du wirst immer nur Nadeen bleiben. Am liebsten wäre sie gegangen. Aber sie musste mindestens noch bis zur Zeugnisvergabe bleiben.