Jeanette Oertel: Der wunde Himmel

Leseprobe


S. 11 bis 16

 

 

 

Draußen wurden die Rufe drohender, jemand kreischte, ich zuckte zusammen.

 

Meine Absätze klackerten auf den Rauten und Sternen des dunklen Parketts, das Stakkato hallte von den kahlen Wänden wider. Es roch nach heimlich gerauchten Zigaretten und nach Moschus. Am Ende des Ganges hörte ich ein Murmeln. Erleichtert atmete ich aus. Vielleicht war der Botschafter dort? Ich folgte dem Murmeln bis ins hinterste Büro. Es gehörte Dr. Elin Turk. Elin Turk war Ärztin, sie koordinierte die medizinischen Untersuchungen des Botschafters. Sie schien beim Botschafter besonderes Vertrauen zu genießen, weshalb sie sich auch um Bewerbungssachen und Menschenrechtsangelegenheiten kümmerte. Das Murmeln verstummte. Ich stürmte ins Zimmer. Die erschrocken aussehende Frau und der bleistiftdünne Jan von Kessel saßen vor einem geschlossenen iPad. Von Kessels knochige Hand lag darauf, als hätte er es gerade erst zugeklappt.

 

»Haben Sie den Botschafter gesehen?«, fragte ich.

 

Beide schüttelten den Kopf.

 

»Das wäre auch das erste Mal, dass der hier wäre«, frotzelte von Kessel. »Er bestellt doch alle hoch zu sich.«

 

»Wenigstens einem von uns ist noch nach Scherzen zumute«, konterte ich und drehte mich auf dem Absatz um. Die Tür ließ ich offen.

 

Während ich an den übrigen, leer stehenden Zimmern entlang zurückhastete, wurden die Rufe vor der Botschaft wütender, auch englische waren jetzt darunter: »Wir zünden eure Botschaft an!«

 

Ein Schauder überlief meinen Körper. Ich erstarrte.

 

»Bitte verteilen Sie sich!«, befahl eine Männerstimme vor der Botschaft über ein Megafon der tobenden Menge.

 

War das schon einer von Mansurs Sicherheitstrupps?

 

Ich lief weiter, den verlassenen Gang weiter zum Aufzug.

 

Verteilen Sie sich! Das hatte ich schon mal gehört.

 

Bürger, hatte es damals geheißen, Bürger, verteilen Sie sich! Zwei Stasibeamte hatten das durch ein Fenster ihrer Zentrale in Berlin-Lichtenberg über ein ebensolches Megafon gerufen. Es war ein Montagabend im September 1989, ich war zwölf und der vor dem Lichtenberger Rathaus losziehenden Menschenmenge mit einer Mischung aus Neugier und Ungläubigkeit gefolgt. »Wir sind das Volk«, hatten sie immerzu gerufen. Was hatte ich mitten unter ihnen getan? Ich? Deren Vater Offizier im Verteidigungsministerium der DDR war ...

 

Immer mehr Mitschüler und sogar Lehrer hatten mich damals angesehen, als wäre das dasselbe gewesen, wie bei der Stasi zu sein.

 

Nach einem zehnminütigen Marsch zur Ruschestraße hatten die Demonstranten den Plattenbau der Stasi-Zentrale umzingelt, ich war mitgelaufen, unruhig, der Sog, der von dieser Menschenmenge ausgegangen war, war stärker gewesen. Die Rufe waren verstummt mit jedem der unzähligen brennenden Teelichter, die sie vor dem Gebäude aufgestellt hatten, und mit jedem war es stiller geworden. Das hatte mir Angst gemacht, und doch hatte es so viel Kraft besessen.

 

Ich schüttelte die Erinnerung ab.

 

Als ich den Aufzug betrat, hüpfte und trillerte die Klaviermusik darin wie zur Eröffnung eines Tanztees.

 

Vierter Stock.

 

Nach wenigen Schritten stand ich vor von Kessels Büro. Sein dunkles Sakko hing über der Stuhllehne, irgendwie schien es, als würde es mich belauern. Das Zimmer wirkte, ohne dass ich hätte sagen können, wieso, verkleidet wie der ganze von Kessel. Als würde es ein Geheimnis bergen und alles tun, es zu vertuschen.

 

»Bitte verteilen Sie sich!« Erneut das Megafon.

 

Ratlos eilte ich vorbei an Mansurs Büro, in dem lautlos der Fernseher lief. Ich lief weiter, an den Büros jener Kollegen vorbei, die das Glück hatten, heute pünktlich Feierabend gemacht zu haben. Bevor die Demo ausgebrochen war.

 

Die anderen Abteilungen betrat der Botschafter nie, dort zu suchen wäre Zeitverschwendung. Er konnte nur noch im Geheimtrakt sein. Aber wieso hatte er mir das nicht gesagt?

 

Am Ende des Ganges nahm ich die Treppe ins Kellergeschoss. Jetzt bloß keine Fahrstuhlmusik!

 

 

 

Im Kellergeschoss war der Lärm vor der Botschaft gedämpfter. Ein Geruch nach altem Staub und frischem Rauch sponn mich ein wie eine freundliche Spinne. Ich lief an dunklen Holzschränken vorbei, die der Wohnung meiner Urgroßeltern hätten entsprungen sein können: Wahllos nebeneinandergestellte Wandschränke aus der Zeit um die Jahrhundertwende auf abgewetzten Teppichen. Aus einer plötzlichen Laune heraus wollte ich einen der Schränke öffnen. Abgeschlossen. Ich versuchte es am Nebenschrank. Dasselbe. Auch an den anderen Schränken fehlten die Schlüssel.

 

Ich hielt inne. Meine Finger strichen über rissig gewordene Blumen-Intarsien. Was wohl darin war?

 

Während ich an den Schränken entlangging, verklang der Lärm der Demonstranten hinter mir wie der Abspann eines Filmes.

 

Dann, am Ende der Treppe, hörte ich ein Kreischen, das abrupt wieder abbrach. War das auf der Straße oder in der Botschaft?

 

Die Stille, die nach dem Kreischen eintrat, war absolut.

 

Stille, als hätte jemand den Ton ausgestellt.

 

Mir wurde kalt vom Nacken bis zur Stirn, mir war, als tanzten unter meiner Kopfhaut winzige Nadeln. Ich griff mir an die Schläfen, versuchte, ruhig zu atmen. Ein und aus. Ein und aus.

 

Sprengten sie die Demo mit Gewalt?

 

Was passierte da draußen?

 

Mansur hat alles im Griff.

 

Ich wiederholte den Satz wie ein Mantra und lief bis zum Ende der Treppe, durch die feuerfeste Tür im Keller, folgte dem Gang, nach links, unter dem Gebäude entlang, bog ab, bog ab, und kam schließlich vor einer weißen Kunststoffwand zum Stehen.

 

Ich gab den Code ein: Kazan*Kathedral*2024.

 

Was sich wohl hinter diesem Codenamen verbarg?

 

Die Wand glitt einen mannsbreiten Spalt auf, ich schlüpfte hindurch, sie schloss sich leise hinter mir. Doch der Bewegungsmelder reagierte nicht. Es blieb dunkel. Im Geheimtrakt war es so still, als hätte die Welt hinter der Kunststoffwand aufgehört zu existieren. Ich tastete mich zum Geländer vor und nahm vorsichtig die Stufen. Fünf bis zum Geheimzimmer des Botschafters. Ich klopfte. Stille.

 

»Your Excellency?«

 

An das diplomatische Protokoll, das diese ungelenke Ansprache gebietet, hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt. Jetzt hielt ich mich an diesen Worten fest.

 

Ich klopfte erneut, fester diesmal. Keine Antwort.

 

Wo, verdammt noch mal, steckte der Botschafter? Wo? Ich schrie vor Verzweiflung, schlug gegen die Tür. Mein Herz raste.

 

Ratlos tastete ich mich zurück zum Geländer, die Treppen nach oben.

 

Der Bildschirm, auf den ich den Code eintippen musste, reagierte nicht.

 

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff. Erst der Bewegungsmelder, jetzt das Display! ... Der Geheimtrakt hatte einen eigenen Stromkreis, und der war ... ausgefallen! Oder hatte etwa ...

 

Übelkeit fiel mich an wie ein wildes Tier. Ich spürte den schnellen, lauten Schlag meines Herzens in den Ohren.

 

Hatte etwa jemand den Stromkreis unterbrochen?

 

Ich musste hier raus! Hart schlug ich gegen die Tür, rief, trommelte. Tränen schossen mir in die Augen.

 

Wer außer Mansur und Dana konnte wissen, dass ich hier war?

 

Die Stille kroch an mir hoch, umhüllte mich, verbarg mich. Sie verriet mich nicht, verriet mir aber genauso wenig, was da draußen geschah oder in der Botschaft. Sie tröstete und ermunterte mich nicht. Im Gegenteil.

 

Ich glitt auf den Boden und kauerte mich gegen die kalte Wand. Normalerweise hasste ich die vielen Überwachungskameras, mit denen die Botschaft gepflastert war. Sie gaben mir das Gefühl, gläsern zu sein. Jetzt, hier, sehnte ich sie herbei. Aber es gab keine Kameras hier. Denn diesen Ort gab es nicht. Der Trakt war geheim, so geheim, dass nur der Botschafter und Rayan Mansur ihn kannten. Und ich natürlich.

 

 

 

 

Aus: Jeannette Oertel, Der wunde Himmel, S. 11 bis 16

© Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

 

 

[...]

 

S. 344 bis 346

 

Er drehte mich auf Bauch und Knie, und ich empfing ihn überall, presste mich an ihn, um ihn, schrie. Ich fand mein Wesen mit ihm, und was ich fand, entsetzte mich. Es machte mir Angst, so sehr war das hier ich.

 

Dass er Deutschland bald verlassen würde, verdrängte ich mit aller Macht und mit noch mehr Prosecco, als meine Macht nicht mehr ausreichte. So haltlos fühlte ich mich, wie Wasser ohne Gefäß. Er küsste mein Haar, er sah mich an wie am ersten Tag, als würde er jetzt damals erwachen. Sein Handy weinte ins Leere. Kiu gab ihm ein Küsschen auf die Wange. Er küsste ihr Köpfchen, was mich glücklich machte. Ich kroch in seinen Duft. Es gab nichts, was ich in diesen Augenblicken nicht besaß.

Wie zerfetzt und doch wie eins lagen wir da. Ich schlug mich durch meine plötzliche Angst, dass uns etwas Schlimmes geschehen würde. Er strich mir eine zerweinte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Für uns wird es immer einen Weg geben«, versprach er.

Wir schmiegten uns aneinander, sprachlos. Worte würden nie reichen für uns. Ich wollte sein Zustand sein. Seine Sehnsucht. Für immer wollte ich in seine Venen fließen wie ein lebenslanges Gift. Er sollte nicht mehr davon loskommen, außer mit mir als Heilmittel.

Ich bettete meine Stirn auf den Boden, schmiegte meine Wange an seinen Fuß und küsste ihn.

 

Als er duschen ging, gab ich ihm mein Handtuch, um mich die nächsten Tage nach dem Baden damit zu umschmiegen.

 

Im Flur blinkte sein Handy. Die Dusche rauschte. Mein Herz schlug hart, doch ich wagte es und strich über sein Handy:

Behnke, BND: 2 verpasste Anrufe. Von Kessel: 47 verpasste Anrufe. Bernd Bilfinger-Borer: 1 Anruf.

Siebenundvierzigmal von Kessel?

Meine Entdeckung im Serverraum fiel mir ein. Ich sah die Datei vor mir –

 

Wie eng Rayan dabei mit von Kessel paktierte. Sollte ich Rayan nicht endlich erzählen, dass von Kessel meinen Vater auf dem Gewissen hatte? Oder wusste er etwa schon alles?

Unerträglicher Gedanke. Meine Arme und Beine wurden kalt.

Ich wollte nichts mehr denken, weshalb ich mich ans Klavier setzte und King Arthurs Cold Song improvisierte – die Arie aus Purcells gleichnamiger Oper.

King Arthur will seine Verlobte, die blinde Prinzessin Emmeline, aus den Armen seines Erzfeindes retten. Die verzweifelte Inbrunst seines Gesangs, um dessen Herz aufzutauen. Sein stakkatohaftes Flehen, so sehr, dass der Wahnsinn dabei ist, seinen Mantel um ihn zu legen.

Kiu war neben mich gesprungen und sah mir zu. Ich spielte aus dem Kopf, traf fast jeden Ton.

 

Als ich wieder in den Flur trat, entdeckte ich Rayan am Sicherungskasten. Schon schloss er ihn wieder. Als wäre gar nichts gewesen, band er sich die Krawatte zu.

Meine Knie wurden so weich, dass ich fürchtete, sie würden mich nicht länger tragen. »Was hast du am Sicherungskasten gemacht? Verwanzt du etwa meine Wohnung?«

»Verlockende Idee, dir noch näher zu sein«, sagte er mit einem Schnurren in der Stimme. »Aber es ist Unsinn, Liebling. Das Licht im Bad war immer wieder ausgegangen.«

 

Das Licht im Bad? Das konnte nur eine Lüge sein.

Wieso sagte ich ihm nicht, dass ich ihm nicht glaubte? Weil damit das, was uns noch verband, für immer zerbrechen könnte?

 

Aus: Jeannette Oertel, Der wunde Himmel, S. 344 bis 346,

© Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke