Anne Bax: HerzKammerSpiel

Leseprobe


Überall in ihrer Wohnung waren Spuren von Irene. Sichtbare und unsichtbare. Irenes neuer blauer Schal mit dem wilden Punktmuster, den ihre Mutter und deren Freundinnen eigens für Irene selbst ersteigert, gebatikt oder geklaut hatten, hing über einem Sessel und erzählte unauffällig vom letzten Donnerstag, als Charlotte eigentlich den Auftrag bekommen hatte, an Irenes Hals nach einer allergischen Reaktion auf eben diesen Schal zu suchen.

 

Sie hatte nichts gefunden. Nichts außer dieser warmen Haut, die zu den Schultern führte und von dort aus auf einem sehr direkten Weg in noch interessantere Gefilde. Da man bei Allergien nicht vorsichtig genug sein konnte, hatte Charlotte Irene den Schal und den Rest der Kleidung in großer Eile entfernt und sie überall gründlich auf versteckte Reaktionen überprüft. Am Ende des intensiven Allergietests, als sie in einem Aggregatzustand irgendwo zwischen fest und flüssig vollkommen ineinander verschlungen auf dem Sofa lagen, hatte Charly ein paar frische rotbläuliche Flecken auf Irenes Hals gefunden.

 

»Ist wohl keine Allergie, sondern eine Infektion. Offensichtlich schlimm ansteckend«, hatte sie gemurmelt und sich noch einmal feucht und leidenschaftlich in der befallenen Nackenbeuge festgesaugt. Und diese Diagnose war vollkommen richtig gewesen, denn auch Charlotte hatte am nächsten Morgen einen Rollkragen tragen müssen, um die Spuren der Endemie zu verbergen.


»Sie ist viel auf Friedhöfen unterwegs.«

 

»Wo sie hoffentlich auf den gut gestreuten Wegen bleibt und keine Gießkannen klaut. Oder Schaufeln.«

 

Ein kleiner kalter Schauer lief von Charlottes Kopf ihren Rücken hinab bei dem Gedanken daran, was sie alle zusammen in einer Sommernacht vergraben hatten.

 

Luise Gabriel tippte und wischte sich auf ihrem iPad zu Rose-Lottes Seite und reichte es Charlotte.

 

Rose-Lotte, die sich online Hagebutte nannte, besaß eine Chronik, die von Engeln beherrscht war. Steinernen, bronzenen, eisernen Engeln, die auf Friedhöfen stoisch über Verstorbenen schwebten, kauerten und wachten. Rose-Lotte hatte jedem der Engel eine rote Rose zu Füßen gelegt und ihn dann fotografiert. Alle Bilder waren mit Ort und Datum markiert.

 

Charlotte sah ihre Mutter an.

 

»Wenigstens hat sie das Rilke-Gedicht wieder rausgenommen.«

 

»Das habe ich rausgenommen. Und ihr noch einmal erklärt, dass diese Mischung aus Worten, Engeln und Rosen irgendwann irgendwen auf bestimmte Ideen bringen könnte.« Charlotte zog ihre Mutter spielerisch am Zopf. »Mach dir nicht immer so viel Sorgen. Ihr Profil ist doch nicht öffentlich. Sie hat halt keinen anderen Platz, an dem sie trauern kann. Ich glaube nicht, dass sie jemals über den letzten Sommer sprechen würde. Das mit den Rosen ist gewagt, aber es ist viel besser, als wenn sie wieder stundenlang in der Wildnis herumläuft.«

 

Die Wildnis war zwar nur ein großer Name für eine renaturierte Industriebrache, aber sie barg seit dem letzten Herbst ein Geheimnis, das besser nicht ans Licht kam. Und beide Gabriels hatten Rose-Lotte im letzten Herbst mehrmals aus dem dichten Unterholz zurück ans Licht gezerrt.

 

»Ich weiß. Ich wünschte mir nur, sie würde sich etwas mehr dem Leben zuwenden. Bei dir hat das so gut geklappt.« Luise Gabriel sah vielsagend auf das kleine rote Herz an der Wand.

 

»Ich habe allerdings vorher auch niemanden eigenhändig portionieren und tiefkühlen müssen. Vielleicht bringt mich schon dieser winzig kleine Unterschied in einen Vorteil.«

 

Luise Gabriel nickte, erhob sich und zog eine zerknitterte Karte unter dem Pullover hervor. »Apropos einfrieren. Deine Schwägerin feiert mal wieder den Tag, an dem sie vom Gletscher abgebrochen ist. Oder was immer Eisschollen tun, wenn sie entstehen. Wir sind eingeladen. Irene auch. Wahrscheinlich will die liebe Stracciatella irgendjemanden auf ihrer Party mit ihrer Toleranz beeindrucken. Hier schau!«

 

Charlotte nahm die kühle weiße Karte, auf der in großer, spitzer Schrift die Einladung an sie und ihre Mutter formuliert war. Etwas kleiner und blasser stand ein Satz am unteren Rand.

 

Wir würden uns freuen, wenn Charlotte ihre neue Partnerin mitbringt.

 

»Hat der Sushikoch abgesagt und sie kann jetzt bei ihren Tennisfreundinnen nur noch mit zwei Lesben punkten?«

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke