Anne Bax: Rachel ist süß

Leseprobe


Andersrum

„Ey, bist du andersrum?“ Ilka bockte wie ein junges Pferd und stieß mit ihrer Hand ziellos nach hinten. Nico kippte von Ilkas nacktem Rücken aufs Bett und biss sich dabei auf die Zunge, die es nicht schnell genug wieder ins Innere ihres Mundes geschafft hatte. Der Schmerz durchzuckte sie an der gleichen Stelle, die Sekunden zuvor Ilkas Hals berührt hatte. Kleine Sünden.

 

„Wohl zuviel getrunken, was?“ Ilka grinste sie zwar fröhlich an, rückte aber auch ein wenig zur Seite und zog sich ihr T-Shirt über.

 

„Viel zu viel.“ Nico ließ ihre Stimme absichtlich schlurren. „War wohl schon dabei einzuschlafen.“

 

„Und du hast mir dabei auf den Hals gesabbert.“ Ilka wischte sich mit dem Handrücken unterm Ohr entlang. „Echt eklig. Pass bloß auf, dass dir das nicht passiert, wenn du endlich bei Marc übernachtest.“

 

„Da werde ich doch wohl nicht zum Schlafen kommen, oder?“ Nico wusste, dass Ilka nichts lieber tat, als jedes Detail ihrer erst kürzlich erworbenen Kenntnisse im Bereich Beischlaf mit ihr zu teilen, und steuerte sie mit ihrer Frage in vertrautes Fahrwasser. Ilka wickelte sich in ihre Decke und begann mit der ausführlichen Schilderung ihrer Defloration, die sich in den letzten Wochen mehr und mehr von einer leicht blutigen „Jugend forscht“ Lektion zu einem freikirchlichen Erweckungserlebnis entwickelt hatte. Alles war wieder in Ordnung. Nico war wieder Nico und nicht andersrum und Ilka war wieder Ilka und keine begehrenswerte Frau und beide schliefen ein.

 

Irgendetwas weckte Nico mitten in der Nacht aus unruhigem Schlaf und sie schlug die Augen auf und starrte im Licht einer Straßenlampe genau auf diese besondere Stelle unter Ilkas Ohr. Sie fuhr sich mit der immer noch empfindlichen Zungenspitze über ihre Lippen und war sofort wieder versucht, diesen weichen Hals langsam und sanft abzulecken. Solange sie richtigrum gewesen war, hatte sie an Menschen nie etwas ablecken wollen, weder an Ilka noch an irgendjemandem sonst. Sie war also offensichtlich immer noch andersrum.

 

Wie war das passiert?

 

Sie hatten billigen Wein getrunken und sie hatte Ilka eine der Rückenmassagen verabreicht, die sie ihr als Gutschein zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte sich dazu kichernd auf Ilkas nackten Rücken gekniet. Ilka hatte die Massage offensichtlich genossen und Nicos Drücken und Kneten mit kleinen Seufzern und leisem Stöhnen begleitet. Da hatte es begonnen. Ganz heimlich hatte sich einer dieser kleinen Seufzer durch ihr Ohr in ihren Kopf geschlichen und dort gewartet, bis das Gefühl der weichen Haut unter ihren Händen dazukam.

 

Der Seufzer hatte sich galant vor dem Gefühl verbeugt und dann hatten die beiden mitten in ihrem Kopf zu tanzen begonnen und all ihre klaren Gedanken hatten mitgetanzt und sich gedreht und gedreht mit schnellen Richtungswechseln, bis ihr ganz schwindelig  geworden war. Aber sie hatten nicht mehr aufgehört sich zu drehen, nach links, nach rechts, so schnell, so schön, so atemlos, dass Nico sich auf Ilka legen musste, um nicht umzufallen. Ilka hatte sich nicht bewegt; erst als Nicos Zunge feucht ihren Hals entlanggestrichen war, hatte sie Nico aufs Bett gestoßen. Nico schloss die Augen wieder und atmete tief ein.

 

Ihr Kopf war bis zur heutigen Nacht ein leerer langweiliger Ort gewesen, an dessen Wänden ihre Wünsche wie abstrakte Bilder hingen, die sie nie zu entschlüsseln gewagt hatte. Jetzt stand mitten in ihrem Denken eine verwegene Erinnerung und ließ sich bewundern. In dieser Erinnerung legte sich eine Frau auf den nackten Körper ihrer besten Freundin und ihre Brustwarzen fühlten die Haut unter sich durch den Stoff des T-Shirts.

 

Diese Frau leckte mit ihrer Zungenspitze ganz vorsichtig über einen weiblichen Hals, so wie man an einer exotischen Süßigkeit leckt, von der man nicht sicher ist, ob sie wirklich so gut schmeckt, wie sie aussieht. Du wirst es wohl noch einmal probieren müssen, sagte das Gefühl und drehte sich mit der Erinnerung in einem neuen schnellen Walzer. Herum, herum, herum tanzten die beiden in ihrem leeren Kopf.

 

 

Andersrum, dachte sie glücklich und schlief wieder ein.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke