Annette Berr: Die Stille nach dem Mord

Leseprobe


Schneeflocken wirbeln aus dem dunklen Raum auf ihn zu. Kaum geraten sie in den Lichtkegel seiner Scheinwerfer, teilt sich die dichte tanzende Wand. Eine Furt öffnet sich, er gleitet hindurch. Hinter ihm schließt sich der grauweiße Vorhang, verschluckt seinen Wagen, dämpft jedes Geräusch.

 

Der Abend ist weit fortgeschritten, die Dämmerung tief, und der dichter werdende Schneeflug zwingt ihn, das Tempo zu drosseln. Mittlerweile fährt er nicht schneller als Schrittempo, trotzdem reicht seine Sicht kaum fünfzehn Meter weit. Jedoch glaubt er sich sicher, denn sein fotografisches Gedächtnis kennt hier mittlerweile jede Kurve, jeden Apfelbaum, jede Allee und all die unscheinbaren Feldwege, die sich seitlich neben der Landstraße schlängeln, ehe sie unvermittelt den Asphalt kreuzen.

 

Äcker und Wiesen, die den Graben säumen, sind weiß überhaucht; darunter glänzt die Feuchtigkeit dunkel. Auch auf der Straße bleibt der Schnee nicht liegen. Es ist nicht kalt genug. Es taut fast sofort. An den Auffahrten der Feldwege ist es deshalb sogar gefährlich rutschig, denn die typisch lehmige Erde der Region wird in Verbindung mit reichlich Wasser so glatt wie Schmalz. Selbst seine Winterreifen haben Schwierigkeiten, den Halt nicht zu verlieren. Er fährt konzentriert. Er hält das Steuer, entgegen seiner Gewohnheit, mit beiden Händen. Die Straßenlage fordert seine ganze Aufmerksamkeit, der Körper ist gespannt, er spürt Feuchtigkeit unter den Handflächen. Diese seltsame Erregung, die ihn schon den ganzen Tag angetrieben hat, verstärkt sich noch.

 

Er denkt, vielleicht ist er schon sein Leben lang ein Suchender. Falls ja, dann wußte er jedoch nie, wonach er sucht. Ein Suchender zu sein, bedeutet nicht, umherzustreifen und zu suchen. Es bedeutet, tief innen wach zu bleiben und im richtigen Moment die Tür weit aufzustoßen, um den Augenblick hereinzulassen. Er könnte das, was er sucht, nicht in Worte fassen. Er könnte es nicht beschreiben. Er weiß nur eins: wenn er es jetzt vor sich sieht, wird er es sofort erkennen.

 

Aus dem Fond des Wagens dringt ein klagender Laut in seine Gedanken. Im Rückspiegel kreuzt er den Blick des Gefährten.

 

Er spürt, wie Liebe seine Augen erwärmt.

 

Leise beginnt er zu summen.

 

Ein Schlaflied.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke