Annette Berr: Schwarzes Öl

Leseprobe


Eine vage Erinnerung taucht auf, zunächst nur ein Gefühl, doch dann konkretisiert es sich in Bildern, in Zurufen, „Heh, drück fester! Fester! Mach ihn fertig, das Würstchen“, damals auf dem Schulhof, die verborgene Ecke an der Nordseite des Geländes, vor den Blicken der Lehrer geschützt durch eine Buchenhecke und Rotdornbüsche, und somit der beliebteste Rauchertreffpunkt, eigenartigerweise kaum kontrolliert, und er, Thorben, hatte sich eingeschlichen in die festgefügte Clique der Raucher, der Schönen, der begehrten Knaben seines Jahrgangs, obwohl er weder rauchte, noch gut aussah, noch cool war, oder sonst eins der Attribute besaß, die zum Eintritt in diese Gruppe berechtigt hätten, hatte er sich einfach schweigend dazugesellt, sich zumeist unsichtbar gemacht, und nur hin und wieder lautstark als freiwilliger Claqueur betätigt, wenn einer der Jungs einen ganz besonders üblen Spruch gemacht, oder sich durch eine andere verbotene Großtat hervorgetan hatte.

 

 Er gehörte nicht dazu. Aber er wurde geduldet. Ebenso, wie er nicht zu seiner Familie gehörte, aber dennoch geduldet wurde. Seine Familie, braunäugige, kräftige Menschen, selbst die Mädchen eher gedrungen, nur er, Thorben, ragte schon jetzt, mit gerade fünfzehn Jahren, hochaufgeschossen heraus, und seine blauen Augen ließen ihn glauben, er sei als Findelkind in diese Familie, in der er sich immer fremd gefühlt, und die ihm nie als Zuhause erschienen war, nur zufällig hineingeraten. Schon das geschwungene Messingschild außen am Haus kündete jedem Besucher, dass er hier eigentlich gar nicht lebte: M. Knecht! Das M. stand für Markus, den Vater, für Marliese, die Mutter, für Marit und Malte, seine Geschwister, aber er, Thorben, wohnte hier nicht!

 

 „Heh“, riefen sie eines Tages hinter der Buchenhecke, hinter den Rotdornbüschen, „heh, nimm Thorben! Nimm Thorben! Nimm den Knecht!“, und johlten begeistert diesen lauwarmen Witz, gegen den er sich nicht sträubte, da er ihn tatsächlich nicht mehr hörte, diesen Namen, der ein Korsett sein sollte, eng geschnürt, aber wie geschaffen, die fest geknoteten Lederschnüre in den Ösen der Erwartungen täglich zu durchtrennen, denn niemals wollte er irgend jemandes Knecht sein oder werden. „Nimm Thorben!“ „Ja“, hatte Thorben nur gedacht, „nimm mich!“ Konrad, der begehrteste und coolste Junge der ganzen Schule, groß überragte er die pickligen Jungs, sogar ein klein wenig größer noch als Thorben, aber schon bärtig, mit breiter Brust und tiefer Stimme. „Nein“, wehrte Konrad das Gejohle halbherzig ab, „er ist zu dünn, ich breche ihm die Rippen!“ „Thorben, Thorben, Thorben, Thorben ...“ hallte das drängende Stakkato der Rufe durch den Nebel, der sich plötzlich in seine Ohren gepfropft hatte.

 

Ferngesteuert, mit schweren Beinen und verklebten Bewegungen, wankte Thorben auf einer imaginären Linie zu Konrad hin, und nicht viel hätte gefehlt, dass er in die Arme, an die Brust gesunken wäre mit dem Seufzen: „Tu es.“ Aber „Tu es!“ schrien nun die anderen, eine geifernde Horde, die sich Sensation erhoffte, und „tu es!“ betete Thorben stumm.

 

 

Ruckartig packte Konrad ihn, grob und widerwillig, als kämpfte er gegen ein inneres Behagen an, damals, als sie alle noch nicht wussten, was das Wort Homosexualität im Detail überhaupt bedeutet, aber beide schon ahnten, dass es möglicherweise etwas gäbe zwischen Knaben, was vielleicht so war, wie zwischen Junge und Mädchen, und Thorben diese Schulpause als Initiierung für seinen weiteren Lebensweg erlebte, während es für Konrad der Beginn eines Kampfes werden sollte gegen den schlimmsten Gegner überhaupt, gegen sich selbst; eines Kampfes, den Konrad noch vor Erreichen seines neunzehnten Lebensjahres verlor, auf einer Landstraße, keine Kurven, keine Bremsspur, trockener Asphalt, nachts, nach einer Party, alkoholisiert, nach seinem missglückten, unbedingt gewollten, ersten Mal mit der Dorfschönheit des Ortes ..., aber „tu es“, betete Thorben damals auf dem Schulhof stumm, ehe Konrads Arme ihn endlich eng umfingen, und als ein heftiger Druck auf seinen Solarplexus ihm plötzlich den Atem benahm und er im Hintenübersinken mit seiner Wange die starke Brust streifte, ehe er das Bewusstsein verlor ... 


 „Sie weiß es“, flüsterte René in Thorbens verschwitzte Halsgrube, „sie hat unsere Mails gelesen.“

 

Thorben ließ die Worte widerhallen, dennoch erreichte ihn die Botschaft nicht. Unsere Mails gelesen?! Die Briefe, mit denen sie seit mehr als einem Jahr ihre Freude aufeinander ins beinah unerträgliche zu steigern pflegten? Die Briefe, in denen jede Handlung vorweg beschrieben und ausgekostet wurde, so dass Thorben noch vor dem Kuss alle Küsse schon auf seiner Haut spürte. Die Briefe, mit denen sie ihre heimlichen Verabredungen trafen: Mal in einem Hotel der Stadt, in die René seine Geschäfte führten, und in die er Thorben hinterherreißen lies. Mal bei Thorben in seinem kleinen Appartement.

 

Selten, so wie heute, bei René zuhaus, hier wo Thorben keine Spuren hinterlassen durfte, denn es war ihr Terrain. Und weil Haare verräterische Zeichen hätten sein können, hatte er sich zuvor sorgfältig, von Kopf bis Fuß, enthaart, auch weil René die Unschuld seines vollkommen nackten, in seiner Schlaksigkeit knabenhaften Körpers liebte. Er hatte sich weder parfümieren noch eincremen dürfen, um Gerüche, soweit es nur möglich war, zu vermeiden ... Und jede Phase der Vorbereitung war sorgfältig dokumentiert in ihren Briefen!

 

Jetzt erst erfasste er die Bedeutung dieser Aussage in ihrer ganzen Wucht.

 

„Wann?“, fragte er kaum hörbar, „Wann hat sie unsere Briefe entdeckt? Und wie hat sie denn bloß das Passwort gefunden?“

 

Sanft zog René seinen Arm unter Thorbens Kopf hervor. Er rollte sich auf die Seite, um besser sehen zu können, betrachtete das verschwitzte und gerötete Gesicht seines Liebhabers und, nicht frei von Häme, sagte er: „Heute vor zwölf Monaten. Ich habe ihr das Passwort zum Geburtstag geschenkt.“ Aufmerksam verfolgte René das Entsetzen auf dem Weg durch den Körper seines Geliebten: Es begann ungläubig in den Augen, sprang hinab in die Mundwinkel, bebte dort um die Wette mit zurückgehaltenen Tränen, spannte eng die Wangenhaut ans Jochbein, kroch übers Kinn in den Hals, krallte sich in die zarten Muskeln, so dass die Luft nur noch mühsam in den Brustkorb floss; vom Hals weiter hinab, in den grollenden Bauch und hinein in die sich ballenden Hände. Dort in den matten Fäusten verebbte das Entsetzen.

 

Es gebar keine Wut, sondern Ergebenheit.

 

„Also hat sie heute Geburtstag?!“ Thorben versuchte, das Zittern zu glätten, das erneut in Wellen durch seinen Körper rann wie ein Fieberschub. Es gelang ihm nicht. Er versank in der Matratze. Sank wie ein steinerner Anker auf den Grund.

 

 

Dies war kein guter Platz zum Bleiben. – Dennoch gelang es ihm nicht, sich selbst zu retten. „Was schenkst du ihr heute?“, fragte er, und legte seinen Hals in Renés Hände. Er ahnte das Messer seiner Antwort, noch ehe René begonnen hatte, die Worte zu schärfen.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke