Jule Blum & Elke Heinicke: Auf der Spur

Leseprobe


Marie, Marie, schnell ist sie nie.

 

Marie ärgert sich über den Vater in ihrem Kopf, kneift kurz die Augen fest zusammen. Lalala, tonlos singt sie gegen die Stimme an. Manchmal hilft das. Trotzdem treibt sie sich selbst etwas an, strebt ein klein wenig schneller heimwärts durch einen grauen Tag, der nichts Besonderes mehr verspricht. Und schon biegt sie in den Kastanienweg, an dem eigenartigerweise kein einziger dieser Bäume wächst. Von Weitem leuchtet der weiße Briefkasten an der Gartenpforte. Erst wenn man direkt davor steht, fällt die winzig kleine Regenbogenfahne auf, die Irene letzten Sommer draufgeklebt hat.

 

Sollen doch alle sehen, dass wir anders sind, ein bisschen wenigstens, hat sie gemeint.

 

Marie öffnet den Briefkasten. Die ihr entgegenstürzende Werbung ist das, was sie erwartet hat. Mit geübtem Griff fängt sie die Werbeflut auf, nur die Postkarte eines bekannten blaugelben Möbelhauses segelt zu Boden. Sie unterdrückt ein ärgerliches Schnaufen, bückt sich und bemerkt erst beim Wiederaufrichten einen im Kasten stecken gebliebenen wattierten Umschlag. Sie entsorgt die Werbepost direkt in die Papiertonne, zerrt den dicken Brief aus dem Kasten. Ein großes braunes Kuvert, mit Adressaufkleber, ohne Absender. Weder privat noch offiziell.

 

Im Flur reißt sie den Brief auf. Die Handschrift kommt ihr so gar nicht bekannt vor. Dabei ist sie recht markant, eckig und groß, weit ausholend, nimmt eine Menge Raum ein. Hätte Marie die Schrift bereits einmal gesehen, würde sie sich bestimmt daran erinnern. Viel hat der Absender allerdings nicht geschrieben, auf einem gefalteten karierten Blatt steht lediglich ein Datum, das ihr erst mal nichts sagt. 15. März 1961, das war Jahre vor Maries Geburt.

 

In dem Briefbogen liegt, sorgsam in eine Plastikhülle verpackt, ein Foto in Postkartengröße, ein Hochzeitsbild. Die Personen kommen Marie vage bekannt vor, oder bildet sie sich das nur ein? Doch. Auf den zweiten Blick ist sie so gut wie sicher: Das müssen ihre Eltern sein. Und könnte der 15. März ihr Hochzeitstag gewesen sein? Ihr fällt plötzlich auf, dass sie noch nie ein Hochzeitsfoto ihrer Eltern gesehen hat. Und nie haben die beiden ihren Hochzeitstag gefeiert.

 

 

Marie zieht fröstelnd die Schultern zusammen, als läge dieser heutige graue Tag im November und nicht im Juni. Was für ein merkwürdiger Brief. Schlagartig wird sie sich der immer noch halb offen stehenden Haustür bewusst und wirft sie mit einem Knall ins Schloss. Dumpf hallt es durch das leere Haus. Irene, Suse, wo bleiben sie nur? Selten hat sich Marie so einsam gefühlt in dem kleinen Reihenendhaus im Kastanienweg mit dem winzigen Regenbogenaufkleber am Briefkasten.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke