Sigrun Casper: Zweisamkeit und andere Wortschätzchen

Leseprobe


 Die Japaner machen es mit Stühlen

 

Jemand sagte mir, die Japaner machten Es mit Stühlen. Ich war etwa elf, der das sagte, auch. Japaner waren die Bewohner von Japan, Japan eine Insel rechts von China, und rechts war der Osten. Japaner hatten gelbe Haut und Schlitzaugen wie Chinesen und beide waren kleiner als wir. Ich hatte noch keinen Japaner gesehen. Die Chinesen waren unsere Freunde. Es gab ungefähr eine halbe Milliarde, wir hatten also sehr, sehr viele Freunde. Ich hatte auch noch keinen Chinesen gesehen. Japan war winzig klein im Vergleich zu China, Japan lag im Ozean im Fernen Osten, aber es gehörte zum Westen. Wir lagen sehr viel weiter links im Atlas, wir lagen im Westen, aber wir gehörten zum Osten, weil wir nach dem Krieg dem Osten zugeschlagen wurden. Es gab viel weniger Japaner als Chinesen. Wovon es wenig gibt, ist interessanter als das, wovon es viel gibt. Weil Japan zum Westen gehörte und die Japaner deswegen nicht unsere Freunde waren und es viel weniger Japaner als Chinesen gab, waren die Japaner interessanter, obwohl China von uns ungefähr so weit entfernt lag wie Japan. China gehörte aber zum Osten, und im Westen gab es Schokolade und schöne Anziehsachen, also gab es auch in Japan Schokolade und schöne Anziehsachen.

 

Ich hätte mir über Japan keine Gedanken gemacht, bis es in Erdkunde drangekommen wäre. Ich wusste, es gab diese Insel mit Namen Japan, und Japan gehörte zum Westen, das war alles, bis ich hörte, daß die Japaner Es mit Stühlen machten. Was “Es machen” bedeutete, wusste ich ebenfalls kaum. So viel war mir bekannt, dass ein Mann und eine Frau Es machten, und daß Es mit den Beinen zusammenhing, mit dem, was dazwischen war, oben wo sie aufhörten.

 

Bei mir war da ein Schlitz. Bei allen Mädchen war da ein Schlitz. Bei den Jungen war da so was wie ein Glöckchen mit dem Schlegel außen. Ob mir das mit dem zwischen den Beinen jemand gesagt hatte oder ob es in der Luft lag, daß Es machen mit dem zwischen den Beinen zusammenhing, hätte ich nicht sagen können, wenn mich jemand gefragt hätte, woher ich wüsste, was Es machen bedeutete und wie Es ging. Aber ich wusste ja auch sonst kaum etwas. Es machen war etwas Besonderes, aber es war anders besonders, besonderer als Schokolade oder Silvester. So besonders war Es machen, dass es in der Schule nicht durchgenommen wurde.

 

Wer Es machen machte, wurde allein durch das Tun von Es machen besonders. Auch das wusste ich nicht sicher, aber ich war davon überzeugt. Zu sagen, ich stellte mir Es machen vor, wäre übertrieben. Ich konnte mir Es machen nicht vorstellen und konnte mir daher auch nicht vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man besonders ist. Es war ein großes Geheimnis um Es machen, Es machen brachte mich zum Kichern und Weggucken, obwohl ich nichts gesehen hatte, wovon ich hätte weggucken müssen, wenn ich versuchte, an Es machen zu denken. Ich hatte weder etwas Bestimmtes noch etwas Unbestimmtes gesehen, wenn ich davon wegguckte.

 

Wenn ich überhaupt nicht daran dachte, mir aber auf einmal einfiel, ich müsste mir jetzt etwas vorstellen, und wenn ich wieder nicht darauf kam, was genau ich mir vorstellen sollte, dann handelte es sich um Es machen. Das Unbestimmte machte Es machen so geheimnisvoll. Sah ich einen Jungen, konnte es geschehen, dass ich mir einbildete, daran zu denken. Ich bildete mir auch manchmal ein, an Es machen zu denken, wenn ich meinen Vater und meine Mutter sah. Bei meinem Vater fiel mir Es machen ehrlich gesagt öfter ein als bei meiner Mutter, aber ich konnte ohne weiteres gleich wieder wegdenken und meinen Vater ansehen, wie man seinen Vater ansieht, also ohne besondere Gedanken. Wenn ich aber einen Jungen sah und Es machen mich automatisch anflog, war mir klar, dass ich den Jungen gut fand. Ich fand ihn gut, weil ich ihn geeignet fand, Es mit ihm zu machen, was Es machen auch sei. Sicher war: Wenn ich größer bin, werde ich Es machen, und wenn ich Es endlich gemacht haben werde, werde ich groß sein und eine Frau. Solange ich Es nicht machte, war ich klein und ein Kind.

In mir war ein Verlangen, Es zu machen und kein Kind mehr zu sein und besonders. Wenn ich das Verlangen merkte, kam ich mir wenigstens für mich allein irgendwie besonders vor.

 

Die Japaner machten Es mit Stühlen. Ein Mensch hat zwei Beine, ein Stuhl vier, ein Stuhl hat also so viele Beine wie zwei Menschen, aber zwischen seinen Beinen hat der Stuhl nichts als Holz und Luft. Es machen war schon besonders genug, es reichte mir schon, mir Es machen zwischen einem Mann und einer Frau vorzustellen und Es mir nicht vorstellen zu können, und nun auch noch mit Stühlen. Warum musste mir das jemand sagen, und warum hat er es so ernst gesagt, daß ich ihm glauben mußte, daß ich gar nicht auf die Idee kam zu zweifeln? Ich war nun gezwungen, etwas, das ich mir nicht vorstellen konnte, mir auch noch mit Stühlen vorzustellen. Immerhin konnte ich mir jederzeit einen Stuhl vorstellen, ich konnte mir sogar einen Stuhl vor die Nase stellen und dann an Es machen denken. Japaner stiegen auf einen Stuhl, damit sie größer sind und machten Es dann. Aber was machten sie? Wenn Japan von uns so weit weg lag wie China und Japaner Schlitzaugen und gelbe Haut hatten wie Chinesen, könnten die Stühle in Japan auch anders aussehen, schon allein deshalb, weil Japan zum Westen gehörte. Vielleicht waren Stühle in Japan Tiere, oder sie waren ähnlich wie Tiere, oder die Japaner machten Es miteinander wie Tiere, die wie Stühle aussahen, oder umgekehrt. Vielleicht machten sich Japaner selbst zu einem Stuhl, bevor sie Es machten. Was aber machten ein Mann und eine Frau aus Japan zusammen mit sich als Stuhl, und wie machten sie Es? Vielleicht waren in Japan die einen Stühle Männer und die anderen Stühle Frauen. Männer und Frauen machten Es bei uns vielleicht auch mit Dingen, die außer ihnen auch noch Beine oder sonstwas hatten. Wir gaben solchen Dingen nur andere Namen. Vielleicht war in Japan ein Stuhl, von Japanern gesehen, überhaupt kein Stuhl, sondern das, was eine Japanerin und ein Japaner machten, wenn sie Es machten, und Es wurde von ihnen mit einem Namen benannt, den man in unserer Sprache mit Stuhl übersetzte. Seit ich hörte, die Japaner machten Es mit Stühlen, und nicht anders konnte, als es zu glauben, sah ich Stühle mit anderen Augen. Aber ich sah nichts Besonderes an ihnen. Es war doch auch möglich, daß Japaner zu dem, was sie zwischen den Beinen hatten, Stuhl sagten. Die Frauen in Japan hatten Schlitzstühle und die Männer Glockenstühle, ansonsten machen sie Es genau so wie sie Es bei uns machten. Aber was machten sie, und wie machten sie Es?

  

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke