Kali Drische: Neulich im Schrank

Leseprobe


Aller anfang ist schwer

Seit der dritten Klasse hatten wir zu meiner Begeisterung auch Schwimmunterricht in der Schule. Im Schwimmen war ich gut. Und was noch besser war: ich tat es auch gern. Ohne weiteres konnte ich die Lehrerin in Staunen versetzen, die mich sportlich bisher so im hinteren Drittel verortet hatte. Wasser war mein Element. Endlich freute ich mich auf den Sportunterricht.

 

Gleichzeitig mit uns Drittklässlern hatten auch Sechstklässler aus der nahe gelegenen Realschule Schwimmen. Einer davon gefiel mir ganz gut. Dunkel, schmal und drahtig. Wir winkten uns manchmal zu. Wenn ich ihn erkannte, denn ohne Brille sah ich schon nicht mehr so gut. Wahrscheinlich würde er mir nicht zuwinken, wenn er mich mit Brille gesehen hätte, dachte ich. Aber wir kannten uns ja nur halbnackt und von Chlordämpfen eingehüllt. Eine Kinderromanze. Betörend und belanglos. Einhandklatschen. Das gab dem Schwimmen das gewisse Etwas. Ein Sahnehäubchen auf der ohnehin köstlichen Torte.

 

Aber so einfach sollte es nicht bleiben. Eines Tages kam der Kumpel meines namenlosen Schwarms zu mir und teilte mir mit, dass sein Freund mit mir ficken wolle. Im Rückblick weiß ich natürlich nicht, ob das auf Auftrag geschah. Wozu hätte das gut sein sollen? Damals wusste ich insbesondere nicht, was das genau für eine Tätigkeit war, die der Namenlose im Sinn hatte. Mir schwante aber, dass ich da nicht so scharf drauf war. Ich meine: ficken? Hallo? Wer kann das schon wollen?

 

Dass er angeblich etwas von mir wollte, war natürlich schön. Aber ausgerechnet etwas, das so rüde klang? Das nahm dem Ganzen doch irgendwie den Reiz. Dazu kam mein Hang, positive Erwartungen an mich zu erfüllen. Aber das? Ich war verwirrt.

 

Der Schwimmunterricht war mir jedenfalls vergällt. Statt auf eine Begegnung mit meinem Schwarm zu hoffen, fürchtete ich mich nun davor. Ich wollte nur winken. Vielleicht zwinkern. Nicht ficken.

 

Damals war ich zu jung für die Menstruationsausrede, die mich hin und wieder vom Schwimmen befreit hätte. Eine Karte, die ich allerdings auch später nie gezogen habe. Ab der fünften Klasse nahmen während des Schwimmunterrichts immer mehr Mädchen voll bekleidet neben dem Beckenrand Platz. Zuweilen saßen mehr Mädchen draußen als sich im Wasser befanden. Und das, obwohl jede Sportlehrerin, die ich je hatte, Buch über unsere Menses führte. Mir war das unverständlich und ich ging natürlich gestöpselt ins Wasser. Aber das war später, als mich das mit dem Ficken nicht mehr vor ganz so viele Rätsel stellte.

 

Ficken, ficken, ficken. Es ging mir nicht aus dem Kopf. Bei der etwas zufälligen Suche nach Aufklärung aller Art fand ich bei meinem Bruder einen Porno. Auf den Seiten, die ich verstohlen aufschlug, waren ineinander verschraubte Geschlechtsteile zu sehen. In Großaufnahme. Sonderbar bildfüllendes Fleisch. Bräunlichrosig. Lappig. Kolbig. Ohne Menschen dran. Gewissermaßen abstrakt. Was gehörte zu wem? Und zu was? Waren das überhaupt Menschen? Die Beklemmung überwog schließlich meine Atemlosigkeit, und ich schlug das Heft wieder zu. Es warf mehr Fragen auf, als es beantwortete.

 

Ein paar Tage später lief ich mit meiner Freundin Urte von der Eislaufbahn nach Hause und wandte mich wenig hoffnungsvoll an sie. Wenig hoffnungsvoll, weil meine Freundin zwar immer genau wusste, was sich gehört, aber sonst nicht so wahnsinnig viel.

 

»Du, also, weißt du vielleicht, was ficken ist?«, fragte ich sie und fummelte konzentriert an dem Schlittschuh rum, der mir vorne über die Schulter baumelte.

 

»Klar!«

 

Ich sah sie verblüfft an.

 

»Du nicht?«

 

Ich hatte sie unterschätzt. Und schüttelte den Kopf.

 

»Sag«, sagte ich.

 

»Ja, also, ganz genau weiß ich es auch wieder nicht.«

 

Haha, schon klar.

 

»Und ungenau?« Ich würde sie nicht so einfach vom Haken lassen.

 

»Das ist irgendwie so wie Liebe machen ohne Liebe.«

 

Das »ohne Liebe« verhieß für mich und meinen Schwarm gerade auf der Schwarmebene nichts Gutes. Aber das war nebensächlich. Die Entschwärmung schritt ohnehin rasant voran.

 

Vor allem sagte mir aber »Liebe machen« genauso wenig wie ficken. Es klang einfach nach schlechtem Deutsch: Ich mache Liebe. Ich tue einkaufen gehen.

 

Aus heutiger Sicht würde ich die Definition anzweifeln, aber im Moment ging es nur darum, sie zu verstehen. Und als Arbeitshypothese für Grundschülerinnen mochte es angehen.

 

Ich gab ungern zu, etwas nicht zu wissen, aber es half nichts: »Und was heißt Liebe machen?«

 

»Das weißt du doch.«

 

»Nicht genau«, schwächte ich meine Unwissenheit ab. »Jetzt sag schon.«

 

Urte sah mich entgeistert an. Klar, dieses Nachbohren gehörte sich nicht, aber wie sollte man denn sonst etwas in Erfahrung bringen?

 

»So genau weiß ich es auch nicht«, sagte sie.

 

Das kannte ich nun schon. Ich hoffte, sie würde jetzt nicht sagen: Liebe machen ist ficken mit Liebe. Ich sah sie erwartungsvoll an.

 

»Also was so Eltern machen.«

 

Was so Eltern machen? Meine Eltern stritten sich hauptsächlich. Das könnte man natürlich auch als Liebe machen ohne Liebe bezeichnen, aber irgendwie kam mir das in dem Zusammenhang unplausibel vor. Schließlich taten sie das auch vor anderen. Und auch wenn ich nicht genau wusste, was ficken war, war mir instinktiv klar, dass das nichts war, was ich meine Eltern fragen sollte.

 

»Im Bett«, ergänzte Urte.

 

Das half mir nicht weiter. Meine Eltern hatten jeweils ihr Bett in ihrem jeweiligen Zimmer, und soweit mir bekannt war, schliefen sie darin nur. Und was immer sie sonst darin tun mochten, taten sie allein.

 

»Geht’s auch etwas genauer?«, fragte ich genervt.

 

Urte stotterte. Druckste herum. Fummelte jetzt hektisch an ihren Schlittschuhen. Ich stellte mich ihr in den Weg. »Spuck’s aus!«

 

»Also ich glaube, da steckt der Mann der Frau da unten den Pimmel rein«, brachte sie schließlich hervor.

 

»Geschlechtsverkehr?«, fragte ich ungläubig.

 

Rein biologisch war ich seit der Vorschule 1a aufgeklärt. Daher wusste ich auch, dass meine Eltern, so unvorstellbar das sein mochte, diesen absurden Vorgang immerhin zweimal absolviert haben mussten. Einmal wegen meines Bruders und einmal wegen mir.

 

»Liebe machen ist Geschlechtsverkehr? Ich dachte, das ist Kinder machen?«

 

Die Aufklärung hatte sich allein auf den arterhaltenden Zweck des Vorgangs bezogen. Ich stellte mir das ähnlich vor wie die Verabredung, einen neuen Fernseher zu kaufen.

 

Mann: »Was hältst du von einem Kind?«

 

Frau: »Ja, warum nicht. Das andere ist ja auch schon recht alt.«

 

Mann: »Gut. Passt es nach dem Abendessen? Ich würde dir dann kurz den Pimmel reinstecken.« Er denkt insgeheim: hoffentlich muss ich dann nicht pinkeln.

 

»Abgemacht.« Sie denkt insgeheim, hoffentlich muss ich nicht die ganze Zeit lachen.

 

Jedenfalls verstand ich jetzt gar nichts mehr. Wieso wollte mir der Typ ein Kind machen? Das ging doch auch noch gar nicht. Ich wusste zwar nicht, wieso das nicht ging, aber immerhin wusste ich, dass es so war. In diesem Wissen und nach ein-gehender Diskussion hatten mein Bruder und ich auch mal versucht, diese anatomische Abwegigkeit auszuprobieren, was im Hinblick auf das Experiment erfolglos blieb, aber in einem wilden Gealber geendet hatte.

 

Urte schwieg.

 

»Und was hat das mit Liebe zu tun?«, setzte ich nach.

 

»Man macht das nur, wenn man sich liebt«, kam prompt die Antwort. Das leuchtete mir sofort ein.

 

»Und was ist dann mit ficken?«

 

»Dann macht man es ohne Liebe.«

 

Logik war noch nie ihre Stärke gewesen.

 

»Wieso macht man es dann? Also wenn man keine Kinder, sondern nur Liebe ohne Liebe machen will?«

 

Darauf wusste sie auch keine Antwort.

 

Wortlos gingen wir weiter. Für mich ergab das alles keinen Sinn, aber ich hatte Hoffnung, das Ganze irgendwann doch noch zu verstehen. Immerhin waren die Sachfragen nun halbwegs geklärt. Mein ehemaliger Schwarm wollte mir, so sagte es jedenfalls sein Kumpel, aus ungeklärten Gründen seinen Pimmel in die Scheide schieben. Es war deprimierend.

 

In diesem Moment kam uns ein älterer Junge entgegen. »Wollt ihr ficken?«, fragte er im Vorübergehen. Der hatte eindeutig nicht alle Tassen im Schrank. Ich drehte mich um und rief ihm hinterher: »Geh doch nach Nummer Fünf!«

 

Das war ein Code, den wir alle verstanden, auch wenn keiner wusste, woher er kam. Nummer Fünf hieß bei uns die Nervenklinik in München Haar. Eine berühmt berüchtigte Institution, die mittlerweile geschlossen ist. Der Junge machte auf dem Absatz kehrt und stürmte wutschnaubend auf mich zu. Ansatzlos fing er an, mich zusammenzuschlagen. Tatsächlich waren die Schläge nicht sonderlich schlimm, da war ich von meinem Bruder anderes gewöhnt. Doch die Wut und damit dieses ziellose Einprügeln auf mich wollten einfach kein Ende nehmen. Vielleicht wäre ficken doch die bessere Alternative gewesen? Aber der Zug war jetzt abgefahren und war offenbar auch nicht mehr zu stoppen.

 

Ich fing an, mir Sorgen um meine Brille zu machen. Auch hätte ich diesen zwar wenig schmerzhaften, aber doch entwürdigenden und völlig sinnlosen Kontakt gerne beendet. Mich zu wehren erschien mir aussichtslos bis kontraproduktiv. Urte war auch keine Hilfe. Aber was hätte sie auch tun sollen?

 

Ich entschied mich schließlich für einen demütigenden, aber wirkungsvollen Ausweg. Ich fing an zu weinen. Eigentlich hatte ich mir das abgewöhnt, aber mir fiel einfach nichts Besseres ein. Nach ein paar weiteren Schlägen und Beschimpfungen à la »Heulsuse« und gut gemeinten Rezepten wie »du gehörst doch gefickt« hörte er auf und trollte sich.

 

»Arschloch«, sagte ich. Leise wohlgemerkt. Ordnete meine Plünnen und ging weiter mit Urte nach Hause. »Das war also das«, sagte ich.

 

Ficken? Nein danke.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke