Aus dem Gutachten für den Prozess im März 2001 in Tübingen von Dr. Herrad Heselhaus, Universität Tübingen


„Das heimliche Auge ist ein dynamisches Kunstwerk, in dem jeder einzelne Beitrag in ein Netz von Interpretationen einbezogen wird. Bilder und Texte gehen Beziehungen miteinander ein, sie variieren einander, widersprechen einander, ergänzen, unterminieren oder extrapolieren einander. Abstrakte Kunst und realistische Fotografie, ernste Darstellungen und ironische Kritik reflektieren einander und eröffnen neue Horizonte, die über das Einzelne hinausweisen ...

 

Dieses Verfahren potenziert sich, denn ein solches Jahrbuch wird im seltensten Fall von vorne bis hinten durchgelesen. Im Gegenteil, man kann bei jedem beliebigen Bild oder Text beginnen und dieses mit jedem anderen kombinieren, so daß eine Vielzahl von Argumentationsketten und Darstellungskombinationen steht. Ein solches Gebilde wird in der Postmoderne als Hypertext bezeichnet: die Summe der ästhetischen Erkenntnisse in MHA sei somit um ein Vielfaches größer als die Anzahl der textuellen und visuellen Beiträge. Eine solche Verfahrensweise sei als absolutes Gegenteil zu pornografischen Verfahrensweisen zu betrachten, da diese, um ihres Zieles schnellstmöglicher Lustbefriedigung willen, auf Eindeutigkeit und Eindimensionalität beharren müssen, so daß im Falle der Pornografie die Summe der ästhetischen Erfahrungen um ein Vielfaches geringer sei als die Anzahl der Darstellungen, im schlechtesten Fall bliebe nur eine einzige Erfahrung, die der „Aufreizung..“.

 

„Mein heimliches Auge“ bietet eine multiperspektivische Darstellung von Sexualität, die gleichzeitig ausnahmslos jedem Rezipienten einen immer neuen fremden Blick auferlegt, denn er kann auf keiner Seite mit einem Beitrag rechnen, der seine eigenen sexuellen Bedürfnisse bedient. Durch diese Fokussierung der Wahrnehmungsstrukturen selber rückt – aller deutlichen Bildlichkeit zum Trotz – die kulturelle zwischenmenschliche – demokratische, produktive (sozusagen der Blick von Foucault) –Bedeutung von Sexualität in den Vordergrund.“

 

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