STUTTGARTER-ZEITUNG


Im Tübinger konkursbuch Verlag erscheint seit vielen Jahren „Mein heimliches Auge“. Darin geht es um den dritten Blick. Nicht in esoterische Sphären wird hier geschaut – ausgestellt, erprobt, ermuntert wird der innig geliebte der öffentlich uneingestandene, der verpönte Blick auf den Sexus. Losgelegt hatte Herausgeberin Claudia Gehrke mit einem großen Versprechen: die in unserer christlich determinierten Kultur gefesselt und geknebelt gehaltenen Ausdrucksformen der körperlichen Sinnlichkeit (wieder ein-)zu üben. Etwas Erstaunliches sollte geschehen: mit Fotografie und Bildender Kunst, Prosa und Lyrik jedweder sexuellen Inszenierung Raum zu schaffen, ohne den Eros zu zerstören. In der Offensive gegen die Pornographie der "losgelösten Geschlechtsteile“ und "geschichtsloser Wesen“ proklamierte Gehrke “Ich wollte die Abbildung des Sexuellen wieder in die Kultur hereinholen. So daß in der „normalen“ Kultur das Sexuelle vorkommen könne, daß die Abbildung des Sexuellen öffentlich anerkannt würde als eine kulturelle Ausdrucksform unter anderen. Erotische Kultur statt Pornoshopmief!“

 

Erstaunliches ist seither geschehen: auch der achte Band löst ihr Versprechen ein. Hunderte von Intellektuellen und Künstlern (darunter Hamburgs Kultursenatorin) haben sich inzwischen in einem oder mehreren Jahrbüchern mit Originalbeiträgen verewigt und doch stellt sich die Langeweile des Immergleichen, Standard der meisten erotischen Anthologien, nicht ein.

 

Noch heute reagiert Prüdling geschockt. Vernimmt er Freuds Satz, die menschliche Sexualität sei „polymorph-pervers“, also vielgestaltig und nicht zielgerichtet. Das heimliche Auge möchte genau sehen, in alle Richtungen. Die Darstellung gebundener Penisse und urinierender Lederfrauen will nicht Jedermanns Beifall finden, auch wird nicht jeder von Gedichtlein wie diesen entzückt sein: "Mit offenen Lippen/Sauge ich Luft/Daran zu vergehen...“ Doch geht es nicht gerade um den Ausdruck und Erfahrung des Verschiedenen, Individuellen? Das meiste im Jahrbuch der Erotik ist raffiniert, witzig, hintergründig, weniges kraß medizinisch. Nicht immer sprechen die Körper, manchmal auch der Kitsch. Aber wer sich mit Abscheu abwenden will, sollte es bei den Stasi-Spitzelberichten über die Jenaer Künstlerin Gabriele Stötzer-Kachold tun, die im Jahrbuch 8 veröffentlicht wurden: „In diesem Jahr plant G. wieder Fotos mit dem Geraer Transfestide. Gez.: ‚Konrad‘“ Gegen diese Obszönität redet „Mein heimliches Auge“ vom anderen: dem kleinen Glück. Man muß es aufmachen.

 

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