Karen-Susan Fessel: Mutter zieht aus

Leseprobe


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Das Telefon und damit die nahende Hilfe befinden sich in nahezu unerreichbarer Ferne, im vorderen Wohnzimmer; gut sechs Meter sind es nur bis dahin, aber diese sechs Meter bilden nun eine fast unüberwindbare Hürde.

 

Andererseits weiß meine Mutter, dass sie diese Hürde überwinden muss, weil ihr schlichtweg keine andere Möglichkeit bleibt. Sofern sie überleben will.

 

Und das will sie. Also macht sie sich auf den Weg. Nachdem der erste Schreck gewichen ist und sie eine Möglichkeit gefunden hat, den Schmerz in ihr Denken zu integrieren, sodass er eher ein Teil ihrer Psyche statt ihrer Physis wird, macht sie sich nun daran, eine Methode zu entwickeln, sich möglichst vorsichtig nach vorn zu bewegen.

 

Unglücklicherweise liegt sie mit den Füßen in Richtung Telefon, sodass kein Drehen und Wenden des Körpers möglich sein wird. Also muss sie sich selbst nach vorn schieben, und das gelingt ihr, indem sie ebenjene Decke, über die sie gestolpert ist, nun zu ihrer Rettung benutzt.

 

Sachte, mit fest zusammengebissenen Zähnen, schiebt sie die Decke unter ihre Hüfte, wozu sie den schmerzenden Oberschenkel ein wenig anheben muss; ein schier unermesslicher Kraftakt, der aber gelingt. Ihr Nachthemd ist beim Sturz hochgerutscht, nun aber hat sie einen gleitfähigeren Untergrund geschaffen, und auf diesem bewegt sich meine Mutter in den folgenden knapp drei Stunden Millimeter für Millimeter vorwärts, wobei sie sich eines simplen Tricks bedient: Erst zieht sie die Decke ein wenig voran, dann drückt sie den Oberkörper mit beiden Händen vom Boden ab und schiebt sich vorwärts.

 

Alle paar Zentimeter hält sie inne und versucht, ruhiger zu atmen. Draußen steigt die Sonne am Aprilhimmel höher, wirft goldenes Licht in die Zimmer, die meine Mutter so viele Jahre bewohnt hat und die sie jetzt, aber das weiß sie natürlich in diesen Stunden noch nicht, nur noch ein einziges Mal für wenige Tage wiedersehen wird.

 

In diesen Stunden ist sie nur damit beschäftigt, sich unter Kontrolle zu halten, mit dem eigenen Körper zu kämpfen, erst gegen ihn und dann mit ihm. Was sie hört, sind nicht die gelegentlich vorbeirollenden Autos, die Stimmen der wenigen Radfahrer, die zur Mittagszeit von der nahegelegenen Erprobungsstelle nach Hause fahren und eine knappe Stunde später wieder zurück; auch nicht die Rufe des aufgebrachten Eichelhähers hört sie, der mit einigen Rabenkrähen um seinen angestammten Futterplatz streitet; sie hört nur das Pochen ihres eigenen Herzens, das Pfeifen ihres Atems, das Schaben der Unterkanten ihrer Hausschuhe auf dem Teppichboden, wenn sie wieder ein paar Millimeter weiter nach vorn gerobbt ist, und das unterdrückte Weinen, das immer wieder in ihrer Kehle aufsteigt.

 

Und dann rückt das Bücherregal an der Ecke in ihre Sichtweite, der Fernsehsessel, schließlich das antike Tischchen. Dort oben steht das Telefon, eineinhalb Armlängen entfernt. Aber wie soll sie es erreichen?

 

Lange hält sie inne, schöpft Kraft, sieht aus dem Fenster in den strahlenden Aprilhimmel hinaus; es ist ein schöner Tag, es wäre ein schöner Tag, für sie aber ist es der Tag, der alles verändern wird, an dem ihr Leben eine weitere, entscheidende Wende nehmen wird, und später ist sie sich nicht sicher, ob dies vielleicht die letzte, entscheidende Wende sein wird.

 

Eine Weile liegt sie ruhig da, spürt dem pochenden Schmerz in ihrem Bein nach und der Tatsache, dass ihre Kräfte zur Neige gehen, dann fasst sie einen Entschluss, der ein Wagnis ist. Aber eines, das sie eingehen muss.

 

Mit einer schier unermesslichen Kraftanstrengung hebt sie den linken Fuß über den rechten hinweg, hakt ihn hinter das nächsterreichbare Tischbein und zieht es mit einem Ruck vorwärts.

 

Meine Mutter weiß nichts von Winkelberechnung und Flächenparametern, aber das Wagnis gelingt. Der Tisch kippt, stürzt schräg nach vorn, bleibt am Lesesessel hängen und verharrt halb in der Luft, während alles, was darauf steht, nach vorne geschleudert wird und herunterfällt, teils auf den Sessel, teils auf den Boden, in den schmalen Winkel zwischen Sessel, Wand und dem Rumpf meiner Mutter. Viel ist es nicht, was da fallen kann. Ein Becher mit drei Stiften, ein weißes Spitzendeckchen, das Telefon. Die Basisstation schlägt auf dem Polster des Lesesessels auf und landet unsanft auf dem Boden, bleibt aber unbeschädigt. Das Handstück fällt weicher.

 

Meine Mutter muss nur die Finger ausstrecken. Dann hält sie das rettende Gerät darin.

 

Dennoch braucht sie eine gute Viertelstunde, bis sie in der Lage ist, die entsprechende Nummer zu wählen.

 

Sie wählt nicht den Notruf. Stattdessen sucht sie im Kurzwahlspeicher die Nummer der Freundin heraus, von der sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass sie zu Hause ist. Sie entscheidet sich für die Nummer der Freundin, von der sie weiß, dass sie umgehend alles stehen und liegen lassen und zu Hilfe eilen wird. Und so wählt sie die Nummer ihrer Freundin Anna.

 

Später erklärt sie, sie habe natürlich nicht den Notruf gewählt, sondern Anna angerufen, weil sie nicht im Nachthemd von fremden Sanitätern abgeholt werden wollte. In den knapp zwei Stunden, in denen sie sich mühselig vorwärts gerobbt hat, ist ihr klar gewesen, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden und mehr noch, dass sie dort vermutlich eine längere Zeit verbringen wird. Dem will sie nicht unvorbereitet entgegensehen.

 

Anna, das weiß meine Mutter, kennt sich in ihrer Wohnung und in ihren Sachen aus, ihr wird sie erklären können, wo die Wäsche liegt, die sie mitzunehmen denkt, wo sich die passenden Hygieneartikel befinden und vor allem die Kleidung, bei der anzulegen ihr Anna wird behilflich sein müssen.

 

Wie erwartet, ist Anna tatsächlich zu Hause und nimmt beim zweiten Klingeln ab. In wenigen Worten schildert meine Mutter ihr die Lage, und Anna macht genau das, was meine Mutter vorausgesehen hatte: Sie lässt alles stehen und liegen und setzt sich ins Auto.

 

Aber nun steht die nächste Hürde an: der Weg zur Haustür.

 

Meine Mutter hat nicht vor, die Öffnung der Tür einem Schlüsseldienst zu überlassen. Diese Kosten lassen sich schließlich vermeiden. Wenn sie die zwei Stunden bis zum Telefon bewältigt hat, dann wird sie es auch noch eine weitere Stunde bis zu Tür schaffen.

 

Und so setzt sie sich erneut in Bewegung.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke