Kim Young-Ha: Der Sterbehelfer

Leseprobe


»Geben Sie mir auch einen Schluck?«

Er goss den restlichen Kaffee in eine Tasse und reichte sie ihr. Sie war offensichtlich eben aufgestanden, ihr Haar war ungeordnet. Auf ihrem Gesicht Reste des Make-ups. Die Jeans mit den ausgefransten Hosenbeinen und das schlapp darüber hängende T-Shirt mit dem aufgedruckten Namenszug einer berühmten Universität aus dem Süden der USA ließen sie sehr jung aussehen.

 

»Angezogen wirken Sie ganz anders.«

»Waren Sie gestern schockiert?« Ihr Lachen klang wie ein beschädigter Luftbefeuchter, hi-ik, hi-ik. »K. hat viel von seinem älteren Bruder erzählt.«

»Wohin ist er gegangen?«, fragte C., das gegenüberliegende Zimmer mit einem schnellen Blick streifend.

»Er ist zur Arbeit gefahren.«

»Zu was für einer Arbeit?«

»Das wussten Sie nicht? K. ist ein Revolver.«

»Ein Revolver?«

»Sie kennen doch das Revolverschuss-Taxi? Peng.«

Judith formte zwei Finger zur Pistole und schoss auf C. Obwohl es nur eine leere Geste war, zuckte C. unwillkürlich zusammen.

 

Für einen Augenblick tauchte die Szene vom Vortag auf, ihr nackter, auf dem Boden liegender Körper. Es dämmerte ihm, dass ihm eine nicht unriskante Entscheidung bevorstand. Kein Zweifel − er fühlte sich zur Freundin seines jüngeren Bruders, die Klimts Judith ähnlich sah, hingezogen, und er mochte den Grund der Verlockung nicht auf die große Müdigkeit schieben, die einem außergewöhnlichen Ereignis folgt, wie ein Begräbnis es darstellt.

 

Sie trank ihren Kaffee aus, holte einen Chupa Chups aus der Tasche und schob ihn in den Mund. In den ersten Minuten schien das Lutschen sie vollständig in Anspruch zu nehmen. Sie blickte auf den Stiel, bis ihre Augen zu schielen begannen. Es war seit Langem das erste Mal, dass er einer Frau mit Lutscher begegnete. Er verachtete Frauen, die Kaugummi kauten. Beim Kauen von Kaugummi benötigte man keine Fantasie. Man bewegte unentwegt den Mund, es war die reine Wiederholung.

 

Er begriff auf einmal, dass eine Frau, die langsam einen Bonbon im Mund zergehen ließ, genau seiner Idealvorstellung entsprach. Seine Aufmerksamkeit war längst von der Morgenzeitung, die er zu lesen begonnen hatte, auf ihre Bewegungen übergegangen. Nach einer Weile gähnte sie, streckte sich auf dem Sofa aus und legte ihre Füße auf den Couchtisch. Die ganze Zeit hatte sie mit Lutschen nicht aufgehört.

 

*

 

»Es war ein Spiel«, sagt Judith, das lange Schweigen brechend. Inzwischen hat der Schnee die Wind-schutzscheibe wieder vollständig zugedeckt; im Innern des Autos ist es vollständig dunkel. »Ich meine, an dem Tag, als wir zum ersten Mal miteinander schliefen. Erinnerst du dich, wie ich am Lutscher gelutscht habe? Als ich bemerkte, wie du immer wieder zu mir hinblicktest, begann ich mit einem Spiel. Würde der Lutscher genügen, oder brauchte es den nächsten Schritt? Heimlich schloss ich mit mir eine Art Wette ab. Wenn du zu mir kommen würdest, bevor ich den Lutscher zu Ende gelutscht hätte, würde ich dich zu meinem Freund machen. Würdest du dich aber erst durch einen stärkeren Reiz verführen lassen, würde ich bei K. bleiben. Klingt das nicht interessant?«

 

Sie öffnet das Fenster. Kalter Wind und Schnee-flocken dringen herein. Sie holt eine Handvoll Schnee vom Autodach herunter und schließt das Fenster. Dann macht sie das Licht an.

 

»Gerade habe ich mir noch ein anderes Spiel ausgedacht.«

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke