Kim Young-ha: Schwarze Blume

Leseprobe


Sie kamen von weither. Die groben Sandkörner Mexikos knirschten in ihrem Mund, trockener Wind blies in die offenen Zelte.

 

Daheim in ihrem Land dauerten die Kämpfe an: Im Februar 1904 hatte Japan Russland den Krieg erklärt. Innerhalb weniger Tage landeten die japanischen Streitkräfte in Choson, dem Königreich Korea, nahmen die Hauptstadt ein und griffen von dort aus die russische Fernostflotte an, die vor Port Arthur ankerte. Zwar verlor die zweihundertfünfzigtausend Mann starke japanische Armee, befehligt von Marschall Iwao, im März des folgenden Jahres in der Schlacht von Fengtian in der Mandschurei siebzigtausend Soldaten, trug aber letztlich den Sieg davon.

 

Mit wachsender Spannung erwarteten die Japaner die Ankunft der baltischen Flotte unter Admiral Roschdestwenski. Ahnungslos bog das feindliche Geschwader, dessen totale Zerstörung in die Geschichte eingehen sollte, um das Kap der Guten Hoffnung und nahm Kurs auf Fernost.

 

Unzählige Menschen strömten in jenem Frühjahr nach Chemulpo?, Bettler, Männer mit kurz geschnittenen Haaren, Frauen in ihren traditionellen Trachten und mit ihren rotznäsigen Kindern. Seitdem König Kojong zehn Jahre zuvor sein Haar nach westlichem Vorbild abgeschnitten und eine Haarschnitt-Verordnung erlassen hatte, beherrschte die neue Frisur das Stadtbild. Im gleichen Jahr, in dem der König unter dem Druck Japans seinen Haarknoten einbüßte, mußte er einen noch viel herberen Verlust beklagen: Von seinem eigenen Vater angestiftet, hatten die Japaner ein paar herrenlose Samurai losgeschickt, welche die Königin mit zahllosen Messerstichen töteten und ihre Leiche in Brand steckten. Der König floh im Februar 1896 in den Schutz der russischen Gesandtschaft und versuchte mit ihrer Hilfe seine bröckelnde Macht zu retten. Vergebens. Ein Jahr später wurde das Königreich zum Kaiserreich deklariert, der König zum Kaiser. Doch damit erlangte er die Macht nicht zurück. Zudem gewannen die Vereinigten Staaten den Krieg gegen Spanien und annektierten die Philippinen. Nicht zu bändigen war die Gier der Großmächte auf Besitz in Fernost. Der hilflose Kaiser fand keinen Schlaf mehr.


3

Der Junge schob sich durch das Unterdeck. Zum Glück fand er in einer Ecke einen freien Platz, wo er sich hinkauerte und sich notdürftig mit ein paar Kleidungsstücken zudeckte. Er schaute sich um. In dieser düsteren Höhle sollte er also die nächsten Wochen verbringen? Die Anspannung in dem überfüllten Raum war mit Händen zu greifen.

 

Familien saßen jeweils für sich in einem Kreis zusammen. Vor allem den Vätern von blutjungen Töchtern lagen die Nerven blank, geplatzte Äderchen hatten ihre Augen gerötet. Es gab fünfmal mehr Männer als Frauen auf dem Schiff. Verstohlen verfolgten sie alles, was die Frauen taten. Über vier Jahre wären sie nun mehr oder weniger beisammen, dachten die jungen Männer. In dieser Zeit würden einige der Mädchen das heiratsfähige Alter erreichen. Welche von ihnen würde vielleicht ihre Frau werden? Ans Heiraten dachte der Junge freilich noch nicht. Doch wenn er die Mädchen ansah, schoss ihm das Blut durch die Adern.

 

Seit mehreren Nächten schlief er unruhig. Immer wieder war ihm ein Mädchen im Traum erschienen. Jedes Mal sah sie anders aus und ließ ihn verwirrt zurück: Sie streichelte ihn mit ihren sanften Händen, seinen Zottelkopf, seine Ohrläppchen, es war alles noch ganz harmlos. Einmal aber sank sie ihm nackt in die Arme, so dass er jäh aus dem Schlaf aufschreckte. Sein Herz pochte heftig, er taumelte über die Schlafenden hinweg und stürzte an Deck, um tief durchzuatmen in der kalten Meeresluft.

 

 *

 

Die Ilford lag da wie eine kleine Insel im Hafen. Wie lange sie wohl brauchen würde, bis sie jenes verheißungsvolle, warme Land erreichte? Keiner wusste es so genau. Schrecken erregte, wer behauptete, es dauere ein halbes Jahr. Wieder andere sagten, so lange Schiffsreisen seien gar nicht möglich, und sie würden spätestens in zehn Tagen ihren Zielhafen anlaufen.

 

Auch über Mexiko wussten sie im Grunde nichts. Es gab keine Berichte, niemand von ihnen war jemals dort gewesen. Die allgemeine Verwirrung war nicht verwunderlich, sie alle schwankten zwischen vager Hoffnung und Angst.

 

Der Junge stand an die Reling gelehnt und ritzte mit einem Messer drei Silben in das Eichenholz: Kim I-jong. Den Namen hatte er erst in Chemulpo bekommen. Dort war ihm ein Mann begegnet, ein Bär von einem Mann, über dessen Arm eine längliche Narbe kroch.

 

„Wie heißt du?“

 

Der Junge zögerte. Der Mann nickte verständnisvoll: „Kannst du mir wenigstens deinen Vornamen sagen?“

 

Jetzt antwortete der Junge. Die Leute würden ihn Changsoi nennen.

 

„Wo sind deine Eltern?“, fragte der Mann weiter. Auch das wusste der Junge nicht. Sein Vater war beim Imo-Aufstand – oder war es die Donghak-Rebellion? – ums Leben gekommen. Dann verschwand auch seine Mutter. Er selbst wurde von einem fahrenden Händler aufgegriffen, bei dem er aufwuchs. Einen Familiennamen bekam er nicht. Dem Hausierer verdankte er jedoch seinen Rufnamen: Chang-soi, Bursche. Das war auch schon alles, was er ihm gab. Eines Tages, als der Händler kurz eingenickt war, machte er sich aus dem Staub. In Seoul schloss er sich dem koreanischen YMCA an.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke