Henrike Lang: Bettenroulette

Leseprobe


Bettenroulette

Dass man morgens beim Aufwachen nicht weiß, wo man gerade aufwacht, scheint eher zu einer Studentin zu gehören als zu einer verheirateten Familienmutter. Doch genauso ist es: Ich weiß abends nie, wo ich morgens aufwachen werde. Für Judith war die Eingewöhnung noch schwerer, als sie nach ihrem Dienstjahr im Kosovo endlich wieder auf ein wenig Ruhe, Kontinuität und Privatheit hoffte. Doch auch sie hat sich dem Bettenroulette inzwischen vollständig ergeben.

 

Ich erkläre es Ihnen mal: Abends legen wir David in sein Bettchen. Ich singe ihm »Schneeflöckchen, Weißröckchen« vor, sein Lieblingslied, bis er Ruhe gibt. Achtmal »Schneeflöckchen, Weißröckchen« nacheinander – im Hochsommer – sind keine Seltenheit. Um nicht irre zu werden, habe ich psychisch auf eine innere Endlosschleife geschaltet.

 

Währenddessen gehe ich im Kopf durch, was ich morgen einkaufen will. Als ich unabsichtlich beginne, »Schokolade, Bratwürstchen« zu singen, schickt David mich weg und schreit nach Mami. Judith löst mich dann beim Schneeflöckchen-Weißröckchen-Singen ab. Für gewöhnlich kommt sie mit drei Wiederholungen davon, dann schläft David tief und fest.

 

Judith guckt anschließend eine Runde Fernsehen, ein großes Glas Rotwein in der Hand, während ich ernsthaftes Zeug lese, Roland Barthes’ Trauerbuch über seine Mutter und dergleichen, denn ich habe in meiner Angeschlagenheit das Gefühl, mir wird die Lebenszeit knapp und ich muss die Bücher, die ich noch lesen will, bald lesen. Anderthalb Stunden später putzen wir uns gemeinsam die Zähne und schlüpfen ins Ehebett, um nach einer kurzen Umarmung sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen.

 

 *

 

Kind im Kinderbett, Eltern im Elternbett – es könnte so schön sein. Manchmal klappt es tatsächlich. Häufiger sieht es jedoch so aus: Judith fehlt morgens, stattdessen liegt ein kleiner schnarchender David neben mir wie Amor neben Venus. »Wo ist Mami?«, fragt David gleich nach dem Aufwachen anklagend, als hätte ich sie vertrieben. Wir gehen Judith suchen. Sie liegt völlig zerschlagen im Gästezimmer und behauptet, wir hätten beide so laut geschnarcht, dass es trotz Ohrstopfen nicht auszuhalten gewesen wäre mit uns.

 

Die Steigerung: David kriecht morgens um vier in unser Bett, ohne dass ich viel davon mitbekomme. Erst als er sich offenbar gedreht hat und Judith, wohl im Albtraum, mit seiner kleinen Ferse kräftig unters Kinn tritt, schrecke ich hoch. Sie hatte nämlich gerade ihre Zungenspitze zwischen den Zähnen und brüllt.

 

Judith droht David mit Haue, David heult empört. Ich trage ihn ins Arbeitszimmer, lege mich mit ihm aufs Gästebett und schlafe, den Jungen im Arm. Irgendwann wird er mir zu heiß und das Neunzig-Zentimeter-Bett mit ihm zu eng. Also lasse ich David im Arbeitszimmer und schleiche mich zurück ins Ehebett. Judith ist aber fort. Ich bin zu müde zum Suchen.

 

Am nächsten Morgen finde ich sie in ihrem Lesesessel im Wohnzimmer. Eine total erschöpfte Judith, im Sitzen schlafend, sieht mit Bäuchlein, Doppelkinn und schlafwirrer Mähne echt gruselig aus, wie Balzac nach einem Schlaganfall. Sie sagt, nachdem ich sie mit einem Becher Kaffee wiederbeleben konnte, sie habe sich, als sie David nachmittags aufs Klettergerüst gehoben hätte, irgendetwas gezerrt und fände gerade nur im Sitzen Schlaf. Also verbringt sie ein paar Nächte im Sessel, bis sich ihr Rücken wieder entspannt hat.

 

In der dritten Nacht schlafen Judith und ich tief und fest. Bloß am nächsten Morgen um fünf, als ich auf dem Weg zur Toilette nur einmal kurz in die offen stehende Tür schaue, ist das Kinderbett leer. Wo ist David? Im Gästezimmer ist er nicht. Auf dem Sofa auch nicht, ebenso wenig in der Badewanne oder im Wäschekorb. Panisch wecke ich Judith: »Er ist zur Wohnungstür raus!« Doch der Schlüssel steckt und abgeschlossen war auch.

 

Schließlich sieht Judith, dass sich das Plaid in ihrem Lesesessel minimal hebt und senkt. Als sie es lupft, entdeckt sie darunter den schlafenden David. Er wollte vielleicht auch einmal dort schlafen, wo seine geliebte Mami geschlafen hat. Gerührt hebt Judith das erst neunzig Zentimeter große Kind auf und trägt es in unser Ehebett. Ich bleibe erschöpft auf dem Sofa liegen. Es gelingt mir, dort noch eine Stunde zu schlafen, bis der Wecker geht.

 

Oder David kann trotz stundenlangen Schneeflöckchen-Singsangs und ähnlicher Maßnahmen nicht schlafen. Wir kapitulieren und lassen ihn bei uns im Ehebett, obwohl wir eigentlich zärtlich sein wollten.

 

Judith urteilt, wir können auch mit schlafendem Kind zärtlich sein, findet es aber unerotisch, wenn ich während des Akts die halbe Zeit die Luft anhalte, aus Angst, mir könnte ein Lustschrei entfahren und David wecken. Also ziehen wir um aufs Sofa. Dort atme ich jedoch nur minimal entspannter, weil unsere Trennwände wie Papier sind. Beim Orgasmus hauche ich »Ach!«, wie eine Figur aus »Die Leiden des jungen Werther«, und Judith rauscht zornig ins Arbeitszimmer, einen Band »Mein heimliches Auge« zur Masturbation unterm Arm.

 

Ich bin traurig. Außerdem kann ich auf dem durchgelegenen Bettsofa nicht gut liegen. Also ziehe ich um auf den Fußboden. Dort findet mich Judith am nächsten Morgen und glaubt zunächst, ich wäre tot. Ihr aufgeregtes Wimmern rührt mich und zumindest geben wir uns einen langen schmelzenden Kuss, wenn es schon mit dem Sex nicht geklappt hat.

 

Und so weiter und so fort. Mal wache ich im Ehebett auf, mal auf dem Sofa, mal im Arbeitszimmer oder im Lesesessel. Judith ergeht es genauso. Einmal habe ich sie morgens sogar auf dem Klo gefunden, wo sie, ein Magazin auf dem Knien, eingenickt war. Seit David, dem Gitterbett entwachsen, ein normales Bett hat, ist eine neue Variante hinzugekommen: Mama soll sich beim Schneeflöckchen-Singen (»Scheißflöckchen«, knurrt Judith, wenn David nicht hinhört) neben David legen, sonst droht er mit Riesengeschrei und damit, nie, nie mehr einzuschlafen.

 

Da David wirklich nur abends tyrannisch ist, aus Furcht vor dem Abgrund der Nacht, und Mama todmüde, gibt sie nach. Bei »Schneeflöckchen, du deckst uns die Blümelein zu« fallen ihr selbst die Augen zu. Judith steckt den Kopf ins dunkle Zimmer, sieht, dass ich in Davids Bett eingeschlafen bin, und holt David zu sich ins Ehebett, damit ich ihn »im Schlaf nicht erdrücke«, wie sie mir am nächsten Morgen gesteht.

 

So fett bin ich nun auch nicht, denke ich sauer, schlucke aufkeimende Zankworte jedoch routiniert herunter. Jedenfalls sehe ich beim Aufwachen ein Dinosaurier-Mobile über mir und bin von Plüschtieren umringt. Vor mir steht David, bietet mir ein halb zerkrümeltes Croissant an und fragt »Gut geslafen?«.

 

Und das fast Nacht für Nacht, ohne Pardon.

 

Eigentlich geht es uns gut, seit Judith aus dem Kosovo zurück ist. Wir fühlen uns endlich komplett als Familie. Die Mutter-Kind-Kur an der Ostsee im März sehne ich dennoch herbei. Judith sagt, sie hätte auch gerne eine.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke