Henrike Lang: Entspannung

Leseprobe


Ich habe gerade einen der härtesten Jobs der Welt. Das kann ich sagen, ohne rot zu werden, weil es stimmt. »Mach Sport«, raten mir alle. »Das entspannt.« Aber es ist zu viel verlangt, denn ich renne eh schon den ganzen Tag mit vollem Marschgepäck durch unwegsames Gelände, ungefähr wie ein römischer Legionär bei Nebel durch den Teutoburger Wald – das sollte echt als olympische Disziplin anerkannt werden. Unter der zarten Fettschicht einer Mitvierzigerin sitzen eisenharte Muskeln und sollte mich jemals ein Geheimdienst verhören, machte ich zumindest anfangs eine gute Figur, denn ich kann stundenlang desillusioniert geradeaus starren und schweigen.

 

Morgens stemme ich Gepäck, abends meinen Jungen. Er bringt mit seinen vier Jahren schon zwanzig Kilo auf die Wage, pralles Fleisch und Muskeln. Mittlerweile bin ich doch froh, nur ein Kind zu haben, denn sonst wüsste ich buchstäblich nicht, wie ich sie ernähren sollte – David frisst uns die Haare vom Kopf. Wöchentlich trinkt er zwölf Liter Milch. Und wer holt sie ihm jeden Samstag mit dem Fahrradanhänger aus dem »Aldi«? Richtig. Bei dem Gedanken, nach alldem noch »Sport« zu machen, wie irgendeine kinderlose Verwaltungsangestellte mit Auto, bekomme ich Schnappatmung. »Sport« ist Luxus für Leute wie uns. Ich muss arbeiten, wenn ich nicht gerade schlafe. Mein letzter Arbeitsgang vor dem Zähneputzen besteht meist darin, Legosteine von den Fliesen zu sammeln, damit wir nachts beim Klogang nicht mit Riesenjuhu darauf ausrutschen.

 

Augenblicklich habe ich noch ein paar Urlaubstage – und erlaube mir, E-Mails von meiner Ausbilderin einfach zu übersehen, reicht es doch, dass ich bereits wieder an der Planung sitze, damit wir die kommenden Monate überleben. David und meine Frau sind in Norddeutschland bei Verwandten und amüsieren sich. Ich amüsiere mich auch, und zwar blendend, denn ich habe frei und die Wohnung ganz allein für mich! Das erste Mal seit vier Jahren! Glück überkommt mich, als ich mich mit einem Milchkaffee nach draußen setze, um eine Pause zu machen. Zwanzig Grad und Sonne, mein Lieblingswetter. Die Wicken duften und der Lavendel. Eine Tomate ist reif. Ich pflücke sie ab und esse sie. Ein Zeppelin gleitet durch den blauen Himmel und wirbt lautlos – danke. Ich mache mich lang, verschränke die Hände hinterm Kopf und schließe die Augen.

 

Unruhig schrecke ich hoch. Zu viel Arbeit liegt noch auf meinem Ferienschreibtisch und ich muss sie erledigen, sonst kriege ich noch nicht einmal Hartz IV und falle meiner Frau und meinem Kind zur Last. Armut bringt Streit, also weiter im Takt.

 

Aber ich kann nicht. Ich kann physisch einfach nicht mehr. Die Erschöpfung fällt mir auf den Kopf wie ein Hammer, meine Gesichtszüge entgleiten mir. Alles wird flach, zweidimensional.

 

Schoko-Doping.

 

Ein Blick auf die Mondlandschaft meiner Oberschenkel gebietet mir, es nicht zu tun.

 

Selbstmord – von der Südbrücke in den Rhein springen, wie Richard.

 

Geht nicht, weil ich Mutter bin. Noch nicht einmal das geht mehr. Selbstmord ist zu einer dekadenten Luxusfantasie geworden, ähnlich wie »Sport« und »Freizeit«.

 

Also ran.

 

Ich kann nicht.

 

Gar nicht. Es geht nicht mehr.

 

Aus.

 

Ich fürchte, dass die Wirtschaft in den kommenden Monaten weiter einbricht und alles noch viel schlimmer wird. Oder ich kollabiere, mit Herzinfarkt oder Krebs. Gestern habe ich eine günstige Sterbegeldversicherung abgeschlossen, damit meine Frau und David mich wenigstens beerdigen können. Ins Bett gehen und eine Stunde schlafen, denke ich, den Nebel einfach wegschlafen. Leider stellt sich der Schlaf jedoch nicht ein, sooft ich mich auch hin und her drehe und Schlaf simuliere.

 

Da kommt mir die rettende Idee, eine Glücksidee, die das Glück vom Balkon wieder einfängt: ein tiefer Griff in die Nachttischschublade, Vibrator raus. Tun’s die Batterien noch? Nein. Aufstehen und nach frischen Batterien suchen. – Keine da, Mist. Aber in der Kamera sind neue Batterien, das weiß ich und stecke sie um. Jetzt schnurrt der Vibrator. – Leg dich noch nicht hin, erst ein Kondom suchen, wegen der Hygiene, ist am einfachsten. – Keins da, also die mittlere Nachttischschublade durchsuchen, in der allerlei Kram liegt. – Auch keins da. Keins da. Immer ich. IMMER ICH. Fühle mich schon wieder suizidal, will wenigstens hin und wieder einen kleinen Orgasmus, und sei er noch so mechanisch. Ich will wieder Homo-Sexualität haben, warum heißt die Chose denn so, diese ganze Diskriminierung muss doch irgendeinen Gegenwert haben, aber meine Frau und ich sind momentan wie abgestorben und wir zanken viel wegen der Armut. – Halt, nein, Quatsch! Im Badezimmer fliegt noch ein Kondom herum, das hat bei den Ohrenstäbchen gelegen.

 

Ich ziehe das Kondom über den Vibrator, drücke den Schalter, er schnurrt. Es kann losgehen. Zeiteffizient, wie ich in den letzten Monaten geworden bin, überfliege ich nebenher ein Backrezept und hoffe, dass meine Klitoris rein mechanisch auf Touren kommt, während meine intellektuelle Aufmerksamkeit den Quarkbrötchen gilt, die es zur Feier der Rückkehr meiner Familie am Sonntag geben soll. Aber meine Klitoris lässt sich nicht betrügen. Sie will meine ungeteilte Aufmerksamkeit und neben der Reibung ein wenig Kopfkino. Masturbation ist Arbeit.

 

Was soll ich mir vorstellen?

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke