Dieter de Lazzer: Buch für einen Leser 1

Leseprobe


Nachtleben

Der Bruder des Erzählers war zweieinhalb Jahre älter und also Vorbild, Anreger und Schrittmacher für den jüngeren. Sie waren fast immer zusammen. Das führte zu jener Großen Erzählung, die als beinahe unendliche Geschichte durch die ganze Kindheit führt. Sie wurde im Konjunktiv erzählt: und dann würde …, und gibt also Antwort auf die Frage: Was wäre, wenn …?

 

Die beiden Buben wurden meist gleichzeitig zum Schlafen geschickt. Dann wurde das Licht gelöscht. Was wäre, wenn es nun ein alter ego gäbe, das um diese Zeit noch nicht schlafen müsste, sondern all das tun dürfte, was den Jungen jetzt, wo sie im Bett bleiben müssen, verboten oder unmöglich ist? …

 

Dabei hatte das ganze Netz etwas Zauberisches, ein Tabu um sich. Bis heute scheut sich der Erzähler, den damals gebrauchten Namen des kleinen Homunkulus, der eben wie Rumpelstilzchen etwas Mysteriöses verkörperte, zu verraten und zu profanieren. Schließlich gehört er ja auch nicht ihm allein.

 

Ort dieser Geschichten war allein die Schlafkammer in der Nacht vor dem Einschlafen, nach dem Löschen des Lichts, wenn die Jungen sich in halblauten oder geflüsterten Sätzen austauschten. Es war klar, dass jeder seine Figur hatte, obwohl beide zusammen eine waren. »Aber meiner würde jetzt …«- Das würde dann eine Weile so stehen bleiben. Und dann würde der andere seine Version erzählen, detailgenau, sozusagen die Differenzen protokollierend. Nach und nach ging die Geschichte langsamer voran. Es gab längere Pausen zwischen den Sätzen. Irgendwann schlief einer ein. Und dann auch der andere, gleich danach, weil jetzt auch das gemeinsame Phantasiereich zur Ruhe gekommen war. - Bei Tag spielte diese Geschichte keine Rolle, da war anderes dran. Aber Themen, Probleme, unerfüllte Wünsche und Fragen, die man gerne weitergetrieben hätte, wurden aus dem Spiel der Tage in die Geschichte hinübergetragen in die geträumte und phantasierte Parallelwelt …

 

Je nachdem, wie die Wünsche sich entwickelten, wer man gerne gewesen wäre und was man gerne gehabt oder getan hätte, gab es Züge (in der Spur A0, damals Null-Null), die in Tunnels in den Wänden fahren konnten bis in die Küche, dort mit ihrem Hebezeug einen Apfel aufladen und bringen. Es gab Tunnels, in denen man überall hinkommen konnte, um etwas zu schauen oder zu tun …

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke