Mein lesbisches Auge 18

Leseprobe 2, Thema "Mütter"


Anna Breitenbach

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Meine Mutter

hat sich zur Seite gedreht,
ihr Gesicht in die Hand
gelegt, sie sagt noch:
Ich schlaf jetzt – sieh zu,
dass du nicht ins Dunkle
kommst!

So ist sie losgeschippert,
mit ihrem weißen Schiff,
kleiner weißer Kapitän
an Bord.

 

 

 

Henrike Lang
So war ich früher nicht

Seit ich Mutter bin, vergebe ich allmählich meiner eigenen Mutter. In den 1980er, 1990er und 00er Jahren war ich, wie so viele junge Leute, damit beschäftigt, meinen Eltern Vorwürfe zu machen, (und nicht ganz zu Unrecht, denn meine Kindheit war subtil schrecklich). Jetzt aber beginne ich zu verstehen. Wie oft hat meine Mutter verzweifelt vor mir gestanden und mich angebrüllt? Und ich, ein sehr vergessliches Kind, sah nur, wie sich ihr Mund öffnete und schloss, öffnete und schloss, mit der Geräuschkulisse einer Flugzeuglandebahn und dem Zorn eines alttestamentarischen Propheten – und schaltete einfach ab. Insgeheim beschäftigte mich ihre Verzweiflung aber sehr. Ich war ein Trottel, richtig? Offenbar das falsche Kind für meine Mutter.

Heute flippe ich gegenüber unserem Kind selbst manchmal aus. Es ist vergesslich und ungeschickt, „paddelig“ auf Norddeutsch. Alle Kinder sind so, aber David ist wie ich, noch etwas paddeliger als seine Klassenkameraden, obwohl er sich herzlich bemüht. Und es bekümmert ihn ebenfalls nur mäßig; selbst, wenn er einen Lieblingsgegenstand verliert, schaut er nonchalant in die Sonne. Ich verstehe das, anders als meine Frau. Manchmal reißt es mich jedoch, und ich starre ihn so fassungslos an wie meine Mutter früher mich und brülle: „VERDAMMT NOCH MAL, DAVID. SUCH DEN FÜLLER. JETZT. ICH ZÄHL BIS DREI“ etc. Mein Sohn steht dann sofort stramm, weil ich so selten brülle. Denn zum Glück bin ich nicht alleinerziehend, wie meine Mutter.

So war ich früher nicht.

Es gibt ein Rätsel, über das ich mir vierzig Jahre lang beim Wäscheaufhängen den Kopf zerbrochen habe: Warum hat mich meine Mutter so oft angeschrien, wenn ich meine Wäsche auf links gedreht in den Wäschekorb geworfen hatte? Das hatte psychologisch echt die Qualität eines Koans, eine dieser buddhistischen Fragen, die sich mit dem Verstand nicht lösen lassen, nur mit der nächsten Bewusstseinsebene. Als Kind erklärte ich meiner Mutter überzeugt: „Ist doch egal, dann dreht man eben die getrocknete Wäsche auf rechts!“ BLAFF. Überzeugte sie nicht. Selbst als David noch klein war, dachte ich, während ich seine gestreiften Bodys und unsere durchgeschwitzten Mütter-T-Shirts aufhängte: Ist doch viel schonender für die Oberflächen, die bleichen dann nicht so schnell aus?
Wo, zum Henker, lag das Problem? Das Problem zeigte sich, als sich die Hormonseligkeit der ersten Mutterjahre abnutzte und wir anfingen, mit nach außen gewendeten T-Shirt-Nähten zur Arbeit oder Schule zu gehen. Da erkannte ich plötzlich, dass es ein Arbeitsgang mehr für mich ist, die halbe Familienwäsche eigenhändig zu wenden, und dass David das, VERDAMMT NOCH MAL, auch selber tun kann. Trauma durch Lebenserfahrung selbst gelöst, Psychotherapiesitzung gespart.

Ich verstehe dich immer noch nicht, Mutter, aber jedes Jahr mehr.

Ich bin definitiv weniger engagiert. Das heißt, natürlich lese ich jeden Morgen Zeitungen und weiß, was auf der Welt los ist, mache mir meine Gedanken. Aber ich gehe nicht mehr zu CSDs und anderen Demonstrationen. Denn da könnte es „Wumm“ machen, weil sich irgendein Irrer berufen fühlt, uns umzubringen, und das kann ich mir gerade nicht leisten, weil ich für einen Neunjährigen verantwortlich bin. Ich liebe meine Nächsten, das muss ethisch reichen.
Genauso lese ich auch täglich die Nachrichten: Was betrifft meine Familie? Ich denke weniger an meine Community oder ans Gemeinwesen, beides auch sehr wichtig, keine Frage, aber zweitrangig. Brutpflegeinstinkt first. Dazu fällt mir eine schöne Anekdote aus meiner Zeit als Philosophielehrerin an einem Kölner Gymnasium ein. Ich hatte dem Oberstufenkurs ein Gedankenexperiment zur Anthropologie aufgegeben: „Stell dir vor, du strandest auf einer einsamen Insel. Dann strandet noch jemand. Was macht ihr?“ Alle antworteten brav, sie würden sich mit dem neuen Kumpel etwas aufbauen auf der Insel, eine Hütte, Jagd, Früchtesammeln – schön, nicht länger allein zu sein.
Dann der zweite Teil: „Eines Tages strandet ein kleines Schiff vor eurer Küste, mit Männern und Frauen. Ihr beginnt, Familien zu gründen. Wie begegnet ihr jetzt den anderen Menschen auf eurer Insel?“ Hier schieden sich nun die Geschlechter. Alles klar, sagten die großen Jungen wieder gutmütig, wir helfen einander und bauen uns zusammen ein schönes Dorf. Nicht so die jungen Frauen. Sie schworen, die Nachbarfamilie bis aufs Blut zu bekämpfen, sollte sie ihnen irgendwelche Ressourcen für die eigene Familie wegnehmen.

Kooperieren oder bekämpfen? Ist der Mensch eher egoistisch oder altruistisch? Kommt drauf an. Gerne kooperiere ich mit anderen Regenbogenfamilien, aber im Zweifel … würde ich meine eigene Familie radikal bevorzugen, und die anderen auch. Idealismus ist Pragmatismus gewichen. So war ich früher nicht. Insgeheim bin ich dankbar, dass es viele Kinderlose gibt, die sich um Kultur, politischen Fortschritt, Umweltschutz und dergleichen kümmern. Ich bin nämlich raus, zumindest für die nächsten zehn Jahre. Mehr als Online-Petitionen gegen das Bienensterben etc. sind nicht drin.
Man kann mir nichts mehr erzählen, seit ich Mutter bin. Diese ganzen Mittelschichtslügen – Leistung lohnt sich, Männer und Frauen sind in Deutschland gleichgestellt, man muss doch nicht so aussehen, wie kann man sich so gehen lassen – Bullshit. Als Frau und als Lesbe ist man auch in liberalen westlichen Gesellschaften verraten und als lesbische Mutter noch mehr. Bevor ich Mutter wurde, wünschte ich mir heiß: „Ich möchte so sein wie alle anderen. Ich möchte sie verstehen.“ Denn ich fühlte mich noch mit Mitte dreißig wie eine Berufsjugendliche, ein schrumpelndes Kind. Grinsend erhörte mich eine Fee, und zack, erlebte ich im öffentlichen Raum dieselbe Diskriminierung wie Millionen heterosexueller Mütter im Land. Leise rutscht man ab.
Ich sehe diese Desillusionierung nicht nur negativ, sondern auch als Reife. Endlich bin ich diese Mittelschichtsnaivität los, und ja, ich kann jetzt auch besser gegen Rassismus kämpfen, bin empathischer für andere Randgruppen. Es ist ja so: Kaum ein Arbeitgeber sagt einem ins Gesicht, dass er niemanden mit afrikanischem Nachnamen einstellt, Behinderte verachtet, Frauen für blöd hält, Lesben für ungevögelt und Mütter für Kühe. Man muss sich diese Einsicht über die Jahre langsam selbst erschließen, aber danach geht es einem viel besser als mit Illusionen. Ich wollte wissen, und jetzt weiß ich. Durchblick gibt mir Kraft. Ich achte keinen politischen Gegner mehr. Da gibt es nichts, was man achten könnte. Ich strafe Gegner mit stummer Verachtung. Wir sind viele, und eines Tages wird sie unsere geballte Verachtung treffen. Nichts bleibt ohne Folgen.
Neulich haben meine Frau und ich ein zweites Mal geheiratet, Ehe als Upgrade der Lebenspartnerschaft. Das war schön, trotz der russlanddeutschen Standesbeamtin, die die Trauung durchzog wie die Unfallaufnahme bei der Polizei. Vielleicht Homophobie, vielleicht auch nicht. Später sagte meine beste Freundin, die auch meine Trauzeugin war, beiläufig auf dem Balkon: „Es geht uns doch gut, es geht uns doch wirklich gut.“ Sie hatte denselben Muttermist durchgemacht wie ich, beruflichen Absturz als Mutter, Ehekrisen mit Kleinkind, Blasenschwäche, Hüftgold. „Ja“, sagte ich. „Das stimmt. Muss man sich manchmal bewusst machen.“
Meine Gegenwart, mein Glück, mein Leben sind mir wichtiger geworden, als um jeden Preis etwas zu erreichen. Was David Leeming in seiner James-Baldwin-Biografie über die schwarze Familie im Roman „If Beale Street could talk“ schreibt, kann inzwischen auch tendenziell für uns gelten:

They are … people who recognize the ‚motherfucker‘ for what he is and, through the power of love for each other, are able to overcome his power to oppress. … They endure, but they do so actively, by fighting back from fortress of their self-respect and their love for each other.