Litt Leweir, "Mersand"

Leseprobe


(Fast) Das Ende

(Vom Anfang des Romans)

 

Es war ein heißer Tag. Jetzt sind Wolken aufgezogen. Es wird ein Gewitter geben. Ein Windstoß bläst gelben Staub in unsere Gesichter. Ich blicke hinauf zum gelben Himmel über dem Berg gegenüber. Dann wende ich mich wieder Charon zu.

 

Sein schwarzer Anzug sieht aus, als wäre er mit gelbem Puder überzogen. Auf seiner Stirn steht Schweiß. Ein Tropfen kullert seine Wange herunter, zieht eine Linie durch den gelben Staub. Ist es wirklich nur Schweiß, oder ist es eine Träne? Zittert er vor Angst, oder ist es der Wind, der durch seinen Anzug weht, der ihn schaudern lässt?

 

»Zu spät«, zische ich und drücke die Pistole fester gegen seine Schläfe.

 

Aber noch drücke ich nicht ab.

 

Ich blicke noch einmal auf, an Alf vorbei auf den Pool. Das Wasser sieht schmutzig aus, dabei war es vor Kurzem noch so wunderbar blau.

 

Blau wie das Meer, denke ich.

 

Ich spüre den Wind in meinem Haar, Kraft, die mich durchströmt.

 

Ich werde es zu Ende bringen.

 

Jetzt.

 

Mein Name ist Mersand. Das war nicht immer so. Wir hatten beide einmal einen anderen Namen, Charon und ich. Das Ende davon ist der Beginn meiner Geschichte.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke


Nachtzug

Der Zug steht. Wassertropfen brechen das orange-farbene Licht, das vom Bahnsteig hereindringt. Draußen rumpelt es, laute Männerstimmen rufen einander etwas zu. Ein Wagen mit Postsäcken fährt vorbei. Die beiden Frauen auf den Sitzen gegenüber werden lauter. Sie sind eine Station vorher zugestiegen und kleben seither aneinander wie Fliegen auf einem Honigbrot. Ich sehe lieber weg. Auf das Nachtlicht über der Abteiltür, auf den Bahnsteig, den Regen, auf eine Ecke des Aktenkoffers, der zwischen meiner Hüfte und der Zugwand klemmt.

 

Ich taste nach dem Buch in meinem Schoß, versuche, mich an den Text zu erinnern, den ich auswendig gelernt habe. Allein die Vorstellung, ihn laut aufsagen zu müssen, lässt mir das Blut in den Kopf schießen. Ich versuche, an etwas anderes zu denken. Doch es gelingt mir nicht.

 

23:05 Uhr zeigt das Display meines Mobiltelefons. Noch eine knappe Stunde und meine Geburtsminute jährt sich zum dreißigsten Mal. Nur zwei Minuten früher und aus mir wäre kein Aprilscherz geworden. Womöglich wäre ich dann auch nicht hier, sondern läge gemütlich zu Hause in meinem Bett, vielleicht sogar in Gesellschaft. So wie meine Schwester Marie, die es eine halbe Stunde früher in diese Welt geschafft hat. Ich habe es beinahe nicht geschafft, sie mussten mich holen. Und dann war ich so schwach, dass ich noch eine Weile an Schläuchen hing, während Marie schon längst fröhlich an den Nippeln unserer Mutter saugte. Auch alles Weitere ist Marie schneller und besser gelungen als mir. Das fing mit dem Sprechen- und Laufenlernen an und endete mit dem Abitur. Danach trennten sich unsere Wege. Maries führte zu einem erfolgreich abgeschlossenen Physikstudium in der Schweiz und einem Doktortitel. Im Mai geht es dann weiter zu einer Anstellung in einem Spital in Zürich. Sie hat bereits Visitenkarten, Medical Physicist steht unter ihrem Namen und daneben Division of Medical Radiation Physics. Zu allem Überfluss hat sie auch noch eine Frau, die im sechsten Monat schwanger ist. Wenigstens eine Frau sollte ich auch haben. Findet Marie.

 

»Du wirst dreißig«, hat sie bei unserem vorletzten Telefonat gesagt, »wird Zeit, dass du was aus deinem Leben machst.«

»Ich hab mein Geschäft«, antworte ich, doch Marie lacht nur. »Komm doch am Samstag zu uns zum Essen«, sagt sie, »Christine wird auch da sein.«

 

Christine ist die Frau, mit der Marie mich schon seit Längerem verkuppeln will. Sieht gut aus, hat einen guten Job und ein gutes Herz. Das ist zusammengefasst Maries Beschreibung von Christine. Dann dürfte sie doch kein Problem haben, jemanden zu finden, oder?

 

Diesmal wäre ich tatsächlich gekommen, wenn ich mich nicht erkältet hätte. Marie will es nicht glauben.

 

»Ich habe wirklich Fieber«, sage ich.

»Na gut«, erwidert sie, »wir haben ja bald Geburtstag.«

»Was hat das damit zu tun?«, frage ich.

»Wirst schon sehen.«

 

Noch eine gute halbe Stunde bis Mitternacht. Um Mitternacht soll ich eine Frau treffen. In Wagen 8 vor Abteil 213.

 

»Sie können sie kaum verfehlen, sie trägt eine Krawatte«, hat der Mann gesagt, der vor ein paar Tagen in meinem Büro aufgetaucht ist. Er sieht genauso aus, wie man sich so einen Typen vorstellt. Dunkler Anzug, Hut, Sonnenbrille, die er nicht abnimmt, obwohl es bei mir im Erdgeschoss ziemlich düster ist. Keine Ahnung, wie der Mann auf mich gekommen ist. Auf mein Geschäft vielmehr. Dienstleistungen aller Art. Katzen füttern. Hunde ausführen. Fenster putzen. Zimmer streichen. Botendienste … Botendienste, das muss es gewesen sein.

 

»Ich habe einen lukrativen Auftrag für Sie, aber er ist riskant.« Er schiebt einen Koffer über den Schreibtisch. Und später sagt er: »Halten Sie sich unbedingt an die Anweisungen. Jedes Detail ist wichtig. Wenn irgendetwas schiefgeht, könnte es sein, dass Sie nicht mehr zurückkommen. Nie mehr, Sie verstehen?«

Ich verstehe nicht die Bohne.

»Um was geht es denn genau?«, frage ich.

»Je weniger Sie wissen, umso besser für Sie.«

 

Die ganze Sache ist mir suspekt. Ich bitte um Bedenkzeit.

 

»Okay«, sagt der Mann und nimmt den Koffer vom Schreibtisch, »wenn Sie es machen wollen, kommen Sie am 31. März um 19:45 Uhr zum Hauptbahnhof. Wir treffen uns auf Gleis 9 unter der Uhr. Seien Sie pünktlich und bringen Sie eine Rose mit. Eine rote Rose. Sollte Ihnen jemand folgen, ignorieren Sie es einfach. Das ist besser für Sie, glauben Sie mir.«

 

Am nächsten Morgen wache ich auf und überlege, ob ich ihn vielleicht nur geträumt habe. Aber der Zettel, auf den er mir den Treffpunkt und die Uhrzeit geschrieben hat, liegt tatsächlich noch auf meinem Schreibtisch.

 

Ich entscheide mich schnell. Die nächste Miete ist fällig, und ich habe Geburtstag, zwei gewichtige Gründe dafür.

 

»Nein, ich kann nicht feiern, ich muss arbeiten«, sage ich allen, die mich auf meinen Geburtstag ansprechen. »Nein, ich feiere auch nicht nach. Es ist ein großer Auftrag. Ich muss am 31. nach München, ich nehme den Nachtzug. – Nein, ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurücksein werde.«

 

Falls ich überhaupt wieder zurückkomme. Aber bisher habe ich mich an alle Anweisungen gehalten. Ich habe sogar geschafft, was mir sonst kaum gelingt, ich bin pünktlich um 19:45 Uhr am Bahnsteig. Sogar an die Rose habe ich gedacht. Der Mann ist da, gibt mir den Koffer, einen Zettel mit den Anweisungen und eine Anzahlung.

 

»Den Rest bekommen Sie dann in München. Sie werden am Bahnsteig erwartet.«

 

Wie angewiesen belege ich den reservierten Sitz im Abteil mit meinem Rucksack und einem Tuch. Als Nächstes soll ich im Speisewagen warten, doch alle Tische sind belegt. Ich überwinde mich und setze mich zu einem älteren Ehepaar auf den einzigen freien Platz. Der Tisch ist zu klein und mit Tellern und Tassen so vollgestellt, dass ich Schwierigkeiten habe, die Rose neben den Kaffee zu legen. Aber so steht es nun mal auf meinem Zettel: Legen Sie die Rose neben Ihre Kaffeetasse.

 

Am Tisch gegenüber bemerke ich eine Frau in Anzug mit Weste und Krawatte, die ihren Blick von meinem Aktenkoffer zu meinem Gesicht schweifen lässt und interessiert die Rose neben dem Kaffee beäugt.

 

Ich lese noch einmal den Zettel mit den Anweisungen des Mannes mit dem Hut. »Wenn Sie die Frau mit der Krawatte schon früher treffen sollten, ignorieren Sie sie!«, steht da.

 

Aber das ist schwer. Unsere Blicke treffen sich, ich kann es nicht verhindern. Die Frau lächelt. Für einen Moment kommt es mir sogar so vor, als zwinkere sie mir zu, und ich kann gar nicht anders als hinsehen.

 

Kurz bevor die Zugbegleiterin erscheint, streckt noch eine andere Frau mit Krawatte den Kopf in den Speisewagen, schaut sich um und verschwindet, ehe ich sie mir genauer ansehen kann.

 

Wäre es ein Fehler, wenn ich schon jetzt zum Treffpunkt ginge? Der Mann hat nicht gesagt, dass ich keinesfalls vorher erscheinen darf. Ich verlasse den Speisewagen.

 

Ich warte vor Abteil 213, dem Treffpunkt. Ich bin allein im Gang, die Frau ist wie erwartet noch nicht da. Ich stelle den Koffer auf den Boden, dann öffne ich das Fenster. Die kühle feuchte Luft tut mir gut, es riecht nach Öl und nasser Erde. Die Wagentür öffnet sich, und die Krawattenträgerin, die mir im Restaurant gegenübersaß, kommt auf mich zu. Sie lächelt.

 

»Sie sind zu früh«, sage ich, als sie mich erreicht.

»Es ist nie zu früh«, antwortet sie. Ihre Krawatte sitzt locker, die oberen beiden Knöpfe ihres weißen Hemdes stehen offen, ebenso ihre schwarze Weste. Ihr Hemd hängt über der Hose. Das Jackett trägt sie über ihrem Arm. Eine Strähne ihres kurzen braunen Haares hängt ihr in die Stirn.

»Soll ich den Code aufsagen?«, frage ich.

»Den Code?«

»Noch nicht?«

»Nur zu!«

 

Ich hole tief Luft und gebe mir einen Ruck. Aber ich sehe sie nicht an, während ich den Text aufsage. Ich schau lieber aus dem Fenster. Dann ist es vorbei, mein Kopf glüht, und ich wage kaum zu atmen, während ich gespannt auf ihre Reaktion warte. Endlich räuspert sie sich. »Das ist der – Code?«, 

fragt sie.

»Ja. Stimmt etwas nicht?«

Sie zögert einen Moment, dann holt sie tief Luft und sagt: »Komm mit!«

 

Ich folge ihr in den nächsten Wagen. Vor einer Abteiltür bleibt sie stehen, schließt auf und bedeutet mir voranzugehen. Sie macht kein Licht, bietet mir auch keinen Platz an. Nachdem sie die Abteiltür geschlossen hat, ist es dunkel. Nur die Nachtlampe über der Tür spendet ein wenig Licht.

 

Ich spüre sie neben mir, warte, dass irgendetwas geschieht, sie etwas sagt. Jetzt hat sie sich bewegt, steht nun hinter mir. Ich höre den Stoff ihrer Kleidung rascheln. Ihr Atem streift meinen Nacken. Sie legt ihre Hände auf den Aktenkoffer, den ich vor mir halte, und schmiegt sich an meinen Rücken.

 

»Gib mir den Koffer!«, flüstert sie mir ins Ohr.

»Ich soll ihn nach München bringen«, sage ich. Plötzlich packt sie meinen rechten Arm und dreht ihn nach oben. Ein stechender Schmerz schießt durch meine Schulter. Der Koffer fällt auf meine Zehen, und ich spüre etwas Kaltes an meinem Nacken.

»Jetzt halt schön still, Herzchen, sonst puste ich dir den Kopf weg.«

Sie tastet mich ab, findet mein Mobiltelefon in der Hosentasche und nimmt es an sich.

»Hat Mickey dich geschickt?«

»Ich kenne keinen Mickey.«

»Wo ist das Geld?«

»Ich weiß von keinem Geld …«

 

Sie drückt das Kalte, das allmählich warm wird, fester in meinen Nacken und zieht meinen Arm weiter nach oben.

 

»Du machst jetzt schön den Mund auf, oder ich blas dich weg!«

»Ein Mann mit einem Hut war in meinem Büro«, sage ich keuchend.

»Also nicht Mickey?«

 

Ich erzähle ihr alles, was ich weiß. Sie lässt meinen Arm los und schiebt mich in Richtung Bett. Ich höre ein metallisches Klicken, dann umschließt kühles Metall mein linkes Handgelenk. Jetzt erst lässt der Druck an meinem Nacken nach. Sie schaltet das Licht ein, nimmt meinen Rucksack, öffnet ihn und kippt meine Sachen auf das Bett. Sie greift nach dem Buch, schnalzt mit der Zunge.

 »Du liest vielleicht Sachen!« Sie lacht, nimmt den Koffer, knipst das Licht aus und geht zur Tür. »Sei schön brav, ich komme wieder.«

 

Meine rechte Schulter schmerzt, mir ist schlecht, am liebsten würde ich mich setzen, doch es geht nicht. Ich hänge mit den Handschellen irgendwo fest.

 

Ich muss einen Fehler gemacht haben, aber welchen? Ich gehe noch einmal alles durch, sehe mich den Bahnsteig entlanggehen mit einer Rose in der Hand. Ich sitze im Speisewagen mit der Rose neben dem Kaffee. Ich sehe die verhuschte Zugbegleiterin, die mir das Buch in den Schoß legt, nicht lange, nachdem ich meinen Platz im Abteil eingenommen habe.

 

»Die Zugbegleiterin trägt ein Buch unter dem Arm. Auf ihrer Weste ist ein kleiner weißer Fleck, das ist das Erkennungszeichen«, höre ich den Mann mit dem Hut sagen. Ja, hat alles gestimmt, der Fleck, das Buch. Das Buch steckte in einem Umschlag. Als ich es herausnehme, weiß ich sofort, warum.

 

Während ich versuche, mir den Text einzuprägen, kommen die beiden Frauen ins Abteil. Schnell lege ich das Buch auf meinen Schoß und den Umschlag darauf, aber ich glaube, sie haben es bereits gesehen. Ein Lächeln, ein Hallo, dann lassen sie sich auf die Sitze fallen. Nicht lange und ich sehe ihre ineinander verkeilten Körper, ihre Zungen, die Hände unter den T-Shirts, das Tuscheln und hin und wieder verstohlene Blicke. So als wollten sie mich provozieren, so als hätte sie der Anblick des Buchcovers dazu angestachelt.

 

O Gott, die Rose! Ich habe die Rose im Speisewagen vergessen. War das der Fehler?

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 2018