Litt Leweir: Am Ende des Fegefeuers

Leseprobe


September 1972

Ich wurde am Sonntag, den dreizehnten August 1961 geboren, am Tag, als die Berliner Mauer errichtet wurde. Und ich starb am sechsten September 1972, vermutlich noch bevor Avery Brundage in seiner Rede im Münchner Olympiastadion „The games must go on“ sprach. Aber das weiß ich nur, erinnern kann ich mich daran nicht. Der letzte Tag meines Lebens, an den ich mich erinnern kann, ist der vierte September 1972, ein Montag.

 

Ich erinnere mich an eine junge Frau, gerade mal sechzehn Jahre alt. Ich sehe sie auf dem Bildschirm unseres Fernsehers. Ich beobachte, wie diese junge Frau Anlauf nimmt, sich mit einem Fuß abstößt und mit Kopf und Rücken voran über eine 1,90 Meter hohe Holzlatte springt. Die Latte vibriert heftig, bis ein Kampfrichter seine Hand darauf legt. Das Stadion jubelt.

 

Vielleicht ist es der Jubel, den mein Vater nicht aushält. Er steht von der Ofenbank auf, die Bierflasche noch in der Hand, geht zum Fernseher und schaltet ihn aus. Dann bleibt er eine Weile mitten in der Stube stehen und blickt mich an. Seine Augen sind glasig, wenn jemand ihn darauf anspräche, würde er sicher sagen, das komme vom Bier. Ich weiß nicht, wie lange er da steht und mich ansieht. Aber ich weiß genau, warum. Ich sehe den Vorwurf in seinen Augen, seine Verzweiflung, seinen Zorn. Ich kann ihn denken hören: Warum er und nicht du, warum er und nicht du, immer wieder und wieder. Schließlich dreht er sich um, schmettert die Bierflasche in den Fernseher und rennt davon.

 

Von einem Moment zum anderen bewegt sich nichts mehr da vorne. Die Wettkämpfe sind ausgesetzt. Niemand schwimmt, läuft, rudert und springt mehr. Die Flaggen wehen auf Halbmast. Ich sehe es noch vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei habe ich es gar nicht gesehen. Nicht damals.

 

Warum ich und nicht er? Warum ich? Was habe ich getan?

 

Ich starre auf den Fernseher. Die Großmutter steht vom Sessel auf und geht aus der Stube, das geborstene Glas knirscht unter ihren Schlappen.

 

Dann ist mein Leben vorbei.


Freitag, 16.September 2011

Michaels Nachtdienst ist fast zu Ende. Er steht in der Küche und drückt einmal einen silbernen Knopf an einer vollautomatischen Kaffeemaschine. Einmal ist für schwach. Die Maschine brummt. Michael wartet, bis sich der Becher mit Kaffee gefüllt hat. Dann nimmt er ihn weg, stellt einen zweiten auf das Gitter und drückt dreimal. Dreimal ist für stark. Demnach ist zweimal für normal. Normal fällt heute Morgen aus. Michael kippt einen Schuss Milch in den Becher mit dem schwachen Kaffee, der starke ist für ihn selbst, er trinkt ihn am liebsten schwarz.

 

Einen Moment bleibt er an die Arbeitsplatte gelehnt stehen und sieht hinaus. Es ist noch dunkel. Michael schließt die Augen, atmet tief durch. Er fühlt sich klar und ruhig. Er nimmt die Becher und trägt sie über den Flur vorbei an zwei geschlossenen Zimmertüren bis zu der einen, die einen Spaltbreit offen steht. Eine Frau blickt auf, als er das Zimmer betritt. Sie sitzt auf einem Stuhl und hält die Hand eines Mannes, der in einem Bett liegt. Es ist ein Pflegebett. es gibt noch ein zweites Bett in dem Zimmer, ein gewöhnliches Einzelbett mit einem Rahmen aus Kiefernholz. Michael hat so eines schon einmal bei Ikea gesehen. Es ist sehr preiswert und sieht trotzdem gut aus. Lange halten muss es nicht. Er stellt den Becher der Frau auf den Nachttisch. Dann setzt er sich auf den zweiten Stuhl neben dem Bett. (...)

 

*

 

Lisa sitzt auf dem Sofa. Sie fühlt sich benommen, ein Druck liegt auf ihren Ohren, sie schüttelt den Kopf, versucht die Benommenheit und den Druck abzuschütteln, doch es hilft nichts. Sie überlegt, ob sie aufstehen soll, den Kopf zur Seite neigen, auf einem Bein hüpfen, damit es herausläuft aus ihrem Kopf, das Unheil, das sie in den letzten Tagen überschwemmt hat. Aber der Kontakt zu ihrem Körper ist abgebrochen und sie weiß nicht, wie sie ihn wieder herstellen kann.

 

Sie mag jetzt auch nicht darüber nachdenken.Sie denkt besser überhaupt nicht. Das Telefon liegt noch in ihrer Hand. Sie versucht zu spüren, wie es in ihrer Handfläche liegt, und tatsächlich fühlt sie den leichten Druck. Sie hat noch nicht aufgelegt, sie hört ein leises Tuten. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und drückt auf die Taste mit dem roten Hörer, dann ist es still.

 

Sie starrt auf das Telefon, erinnert sich an das Gespräch, das sie vor ein paar Minuten geführt hat, und Angst schießt in ihr Herz. Sie fühlt sich wie in einem Flugzeug, das eben in ein Luftloch gesackt ist. Das tiefer sinkt, abstürzt ... Das Telefon gleitet ihr aus der Hand und fällt zu Boden.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke