Leseprobe

Hanna Mittelstädt, Blu

 ... Damals waren es nicht Blus Augen gewesen, die Fil beeindruckt hatten, denn die waren ja großenteils geschlossen, auch nicht seine doch recht erotische Stimme, denn die hatte er so gut wie gar nicht eingesetzt, sondern sein weicher Körper, der wie ein Baby an sie geschmiegt gewesen war. Der Abdruck dieses Körpers, der genauso groß wie ihrer war, hatte sich irgendwie in den Tiefen und Weiten des Gedächtnisses erhalten, als sie ihn nach mehr als zwanzig Jahren wieder traf.

Übrigens ist Blu verheiratet, er war es damals, und er ist es immer noch. Seine Frau kommt wie er aus dem Allgäu, aus einem Ort ganz nah bei dem, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Die echte Vorlage und die Figur, von der ich hier erzähle, wurden von der speziellen Geschichte dieses Landstrichs geprägt, die er offenbar seinen Bewohnern, wohin sie auch gehen mögen, mitgibt. Das Allgäu liegt heute zum Teil in Bayern, in Baden-Württemberg und in Österreich, rein verwaltungspolitisch, aber man liebt diese Zuweisung nicht, als Allgäuer. Man hat seine eigene Sprache und seine eigene Welt, im Kopf und im Herzen. Die Alpen und die Voralpen, der Grünten, die Almen, die Seen, eine historische Butter- und Käsebörse, eine Allgäu-GmbH. Eine Region ohne genaue Abgrenzung, voller Unschärfen und Uneindeutigkeiten, die hierhin mäandert und sich von dort zurückzieht, die sich versteckt oder aufdrängt. So auch ihre Bewohner. Sie mäandern, gehen ins Exil oder kommen zurück, weil es ja so schön ist, das Allgäu! Die Landschaft, die alten Häuser, der Himmel … Und sie verstecken sich gern. Auf Alphütten, auf die man nur mit dem Jeep kommt und auf denen Landjäger und Schnäpse verzehrt werden. Der höchste Genuss: ein echter Enzian!

Was das jetzt eigentlich heißt, verheiratet zu sein, ist auch eine mäandernde Geschichte. Doch dazu später.

Als Fil Blu nach mehr als zwanzig Jahren wiedertraf, redete er, sogar viel. Er hatte ein Buch in seinen kompakten Händen, das er selbst geschrieben hatte, und eine CD mit einer Lesung seiner Texte, mit eigener Musik. Das übergab er ihr. Warum? Er wollte zum Ausdruck bringen, was er in den letzten mehr als zwanzig Jahren gemacht hatte. Dass nicht alles unnütz und vergessen war. Trotz des Alkohols. Und wieso sollte der Alkohol überhaupt eine Rolle spielen, wenn er doch einfach nur gut schmeckte und ein rechtschaffener Allgäuer eben auch ein rechtschaffener, stets durstiger Trinker ist, Bier, natürlich zur Abwechslung auch Wein, und die leckeren Schnäpse, wenn auch nicht zu viel davon.
Das Buch, das Fil gleich am nächsten Tag neugierig zu lesen begann, mäanderte auch. Es erzählte vom Rock ’n’ Roll, von den ewig betrunkenen oder bekifften Jungs, für die eine Heilige Jungfrau Maria am Tresen das Geld beisammenhielt, was sie als Band verdient hatten, damit es nicht gleich komplett vertrunken wurde. Die Heilige Jungfrau Maria wurde die Ehefrau des Bandleaders, bis sie irgendwann genug hatte, von was ist eigentlich nicht ganz klar, jedenfalls im echten Leben, im Buch war schon vorher Schluss. Sie schmiss den Bandleader und Ehemann aus dem gemeinsamen Bett und der gemeinsamen Wohnung. Fil musste zugeben, der Plot des Buches war zwar etwas abgegriffen, die Erzählweise aber doch kunstfertig. Empathisch, wahrscheinlich allgäuerisch verschmitzt, verschroben, sehr lustig und irgendwie abgründig … zumindest ließ der Text so viel Freiheit, dass man das hineinlesen konnte: Hinter all den Plattitüden dieser Art Leben war ganz tief unten eine Distanz zu ahnen, und eine große Liebe zu jedweder Kreatur, besonders natürlich zu den Saufkumpanen und der Heiligen Maria.

Nun war der Autor und ehemalige Bandleader also solo, wie er es formulierte. Aber was heißt hier solo .... Das Ganze hieß Rock ’n’ Roll.

(aus Hanna Mittelstädt, Blu, S. 13 bis 15. Copyright Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke)