Regina Nössler: Endlich daheim

Leseprobe


13.05

Auf dem Weg zu ihrem Haus malte sie sich das langsame Hinübergleiten vom wachen in den schlafenden Zustand aus, wenn die Gedanken sich unmerklich verfremdeten, bizarrer wurden, weil der Kopf aus gewöhnlichem Alltag Träume zu spinnen begann. Ihre Mutter konnte es nicht leiden, wenn sie tagsüber schlief, weil sie das angeblich »aus dem Rhythmus brachte«, wie sie es nannte, und deshalb war Kim froh, heute garantiert eine leere Wohnung vorzufinden. Was wusste ihre Mutter schon von ihrem Rhythmus? Nichts.

 

Abends würde Kim lügen und behaupten, dass sie natürlich zum Basketballtraining gefahren sei. Mit spätestens vierzehn begannen die Geheimnisse und damit auch die Lügen. Merle belog ihre Eltern andauernd. Zumindest behauptete sie das.

 

Endlich daheim. Nur noch die Stufen bis in den dritten Stock. Dann könnte sie sich ins Bett legen. Ein bisschen lesen. Lesen, Gott, wie öde ist das denn?, hatte sie Merles Stimme im Ohr. Oder erst Spaghetti kochen. So viele Möglichkeiten breiteten sich vor ihr aus. Sich dabei auf morgen freuen. Vielleicht hatte Merle ihren Geburtstag gar nicht vergessen, sondern würde sie überraschen?

 

Auf der Straße hatte jemand ein Sofa abgestellt, gleich daneben ein schiefes Regal, von dem die Beschichtung abplatzte, und einen alten Fernseher. Fast ein komplettes Wohnzimmer. Der Bezug des Sofas war an einer Stelle aufgerissen, gelber Schaumstoff quoll heraus. In Kreuzberg war es Brauch, seinen Sperrmüll nachts in dunklen Hauseingängen oder irgendwo auf dem Bürgersteig zu entsorgen.

 

Überall standen kaputte Stühle und lagen fleckige Matratzen herum, obwohl es hier, mit den Worten ihrer Mutter, allmählich »hochpreisig« wurde. Neben den kaputten Elektrogeräten und sonstigem Müll gab es nämlich auch Häuser in Kreuzberg, in die die Bewohner ihre Autos mitnehmen konnten, damit sie draußen niemand anzündete. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Autozimmer.

 

Das Haus, in dem ihre Mutter und Kim seit fünf Jahren lebten, wirkte weniger vertraut als sonst, was sie auf die besonderen Lichtverhältnisse zurückführte. Bisher war es ein zu warmer, stürmischer Novembertag gewesen, trübe und grau. Jetzt war ein Loch in die Wolkendecke gerissen, und ein unwirkliches Licht fiel auf die Straße.

 

Unten an der Haustür blickte Kim flüchtig zu den Klingelschildern. Normalerweise beachtete sie die Schilder neben den Klingeln nicht, wozu auch, sie wohnte ja hier und hatte einen eigenen Schlüssel.

 

Das Schild mit ihrem Namen war verschwunden.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke