Regina Nössler: Wanderurlaub

Leseprobe


Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Es ist so heiß. Ich habe meine Mütze verloren, und nun fühlt es sich so an, als würde die Sonne mein Gehirn frittieren. Wie diese kleinen Schnecken, die im Meer an den Felsen kleben, Lapas, und zusammen mit Knoblauch in einer Pfanne mit siedendem Öl serviert werden.

 

Die Luft ist erfüllt von dem Geruch überreifer Früchte, süß, üppig, schwer, leicht vergoren, mir wird davon fast schwindelig. Die Luft macht betrunken. Ich stecke in einer gigantischen Schüssel mit Bowle, die nicht nur mit Obst und billigem Sekt, sondern auch mit Schnaps angefüllt ist. Die Natur verschwendet sich. Als hätte sie zu viel von allem. Als gäbe es das immer, diesen Überfluss, als wäre es die pure Lust, all das zu produzieren, als ginge es ewig so weiter und das Leben würde niemals enden.

 

Hier müssen auch Gärten sein, obwohl wir lange Zeit an keinem vorbeigekommen sind und das Gelände sehr steil ist. Doch von irgendwoher muss dieser Geruch kommen, es können nicht allein die reifen Kaktusfeigen ringsherum sein. Sie sind so prall, dass sie allein durch ihr Gewicht vom Kaktus fallen, manchmal kann ich sogar das Geräusch hören, wenn sie auf den Boden plumpsen. Hier müssen Menschen sein. Es gibt doch gar keinen Ort ohne Menschen. Auch wenn hier nur 85.000 Einwohner leben.

 

[...]

 

Es muss an der Brechung in der Luft oder irgendeinem anderen physikalischen Zeug liegen, dass nichts von den anderen zu hören ist. Oder sind sie inzwischen schon kilometerweit von mir entfernt? Sind sie einfach ohne mich zurückgefahren und haben mich vergessen?

 

Es ist unheimlich still, abgesehen vom Geräusch der herunterfallenden Kaktusfeigen. Nicht mal ein Vogel ist zu hören – wahrscheinlich ist ihnen zum Singen zu heiß. Meine Füße sind auch heiß. Heiß und geschwollen. Meine Füße fühlen sich so geschwollen an, als würden sie gleich aus den Bergschuhen platzen. Vielleicht sitzen die Vögel gut verborgen in den Drachenbäumen und schlafen ihren Rausch aus, weil sie den ganzen Tag von den vergorenen Früchten gefressen haben. Es gibt hier eine bestimmte Sorte Krähen mit rotem Schnabel, die nur auf La Palma vorkommt, Buchfinken, die sich auch von unseren unterscheiden, und eine eigene Blaumeisenart. Blaumeisen mag ich. Ich stelle mir betrunkene kanarische Blaumeisen in den Zweigen der Drachenbäume vor.

 

Es ist so heiß. Zu Hause hat frühzeitig der Herbst eingesetzt, das habe ich gestern Abend in den Fernsehnachrichten gesehen. Deutschland. In ein paar Tagen bin ich wieder zu Hause. Das weiß ich zwar, im Hotelzimmer liegt ja das Flugticket eingeschlossen im Safe, aber gleichzeitig kommen mir Zweifel.

 

Ich bin durstig. Meine Wasserflasche ist aufgebraucht. Oder doch nicht? Rucksack absetzen, eine Wohltat, seine Last einen Moment nicht tragen zu müssen, und nachsehen. Ausgerechnet heute habe ich nur eine kleine Flasche mitgenommen. Ich ziehe sie aus dem Rucksack, sie ist leer, bis auf einen letzten Rest. Ich öffne die Flasche und trinke den Rest.

 

Es ist nicht mehr als ein winziger Schluck, gerade mal genug, um den Mund zu befeuchten, und durch das Gehen in der Sonne warm wie Teewasser. Ich habe ein kleines Messer dabei und könnte damit eine Kaktusfeige zerteilen. Das würde den schlimmsten Durst löschen. Aber auf ihnen sitzen unzählige winzige Stacheln mit Widerhaken, und ich bräuchte Handschuhe, um sie zu schälen.

 

Wo sind denn die anderen nur, und warum warten sie nicht auf mich? Ich muss an den Bericht über einen Wanderer denken, der fünfzehn Stunden umherirrte. Fünfzehn Stunden! Er war in den österreichischen Alpen unterwegs und hatte den Anschluss an seine Gruppe verloren; die Gründe hierfür blieben unklar, ebenso, weshalb ihn eigentlich niemand vermisste. Da er weder Mobiltelefon noch Geld dabei hatte, war er gezwungen gewesen, sechzig Kilometer zu Fuß zu seiner Unterkunft zurückzulegen. Sechzig Kilometer! Fünfzehn Stunden! Würde ich das überhaupt schaffen?

 

Über den Verlust meiner Mütze könnte ich Tränen vergießen. Eine Eidechse sitzt auf einer zu Boden gefallenen und aufgeplatzten Kaktusfeige. Sie hockt mit allen vier Füßen mitten in ihrem roten, süßen, klebrigen Essen, wie im Schlaraffenland. Vor lauter Gier stört sie sich nicht an mir, was mich froh macht. Ein lebendes Wesen. Endlich ein lebendes Wesen. Hallo! Jetzt halte ich schon Zwiesprache mit Eidechsen.

 

Ich habe die Orientierung verloren. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo ich bin. Eigentlich habe ich einen guten Orientierungssinn, und der Weg ist doch ganz einfach. Vielleicht hat die sengende Sonne meinen Orientierungssinn eintrocknen lassen. Und mit ihm meinen Verstand. Vielleicht sollte ich doch eine dieser verlockenden Früchte klein schneiden, den Stacheln zum Trotz. Ich bin so durstig.

 

Ich höre ein Geräusch und bleibe stehen. Es stammt eindeutig nicht von einer herabgefallenen Kaktusfeige, einer Blaumeise oder einer Eidechse. Auch nicht vom Meer. Plötzlich spüre ich, dass ich nicht mehr allein bin. Ich sehe es nicht, aber trotzdem weiß ich es. Als würde eine Wolke, die aus dem Nichts gekommen ist, die Sonne verdunkeln. Endlich hat jemand bemerkt, dass ich fehle. Doch warum bin ich darüber nicht erleichtert?

 

Als ich wieder zu der aufgeplatzten Kaktusfeige auf dem Boden sehe, ist die Eidechse verschwunden. Etwas muss sie vertrieben haben, und plötzlich weiß ich auch, was.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke