Leseproben aus "Ein widerliches kleines Gefühl"

Diese Leseproben aus dem noch unfertigen Manuskript sind nicht zusammenhängende Momentaufnahmen aus dem Buch, das auf zwei Zeitebenen und aus mehreren Perspektiven erzählt ist.

 

    Sie konnte Jennifers Gesichtsausdruck nicht deuten – wie auch nach dreißig Jahren. Sie kannte die Frau, die vor ihr stand und nun lächelte, kein bisschen, wollte sie auch nicht kennen und hatte absolut nichts mit ihr gemeinsam. Wieso, verdammt noch mal, bist du schon wieder hier? Jennifer machte einen durchaus freundlichen Eindruck mit diesem leicht entrückten Lächeln. Oder vielleicht eher einen bittenden? Freundlich-bittend? Schwer zu sagen. Wollte sie eine Gratis-Unterkunft „unter Freunden“, „wir kennen uns ja schon so lange“, um kein Hotel zahlen zu müssen?
    Bei genauerer Betrachtung allerdings wirkte sie gar nicht mehr freundlich, sondern zufrieden. Fast sogar ein bisschen selbstgefällig. Als hätte sie etwas erreicht. Als wäre ihr etwas Großartiges gelungen. Mehr noch – Jennifer sah triumphierend aus.


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    Evelyn schloss die Tür. Blieb dahinter stehen, ohne sich zu rühren. Jennifers Schritte entfernten sich viel zu langsam, fand sie. Sie sah durch den Spion. Nichts. Leere. Gleich hatte Jennifer das Haus verlassen. Dann hörte Evelyn, vielleicht ein oder anderthalb Stockwerke tiefer, wieder dieses Lachen. Laut und übertrieben und künstlich, genauso wie am Küchentisch. Warum und worüber lachte Jennifer jetzt im Treppenhaus? Ganz mit sich allein? Evelyn wartete. So lange, bis das Licht hinter dem Türspion erlosch. Sie hatte Jennifer gar nicht danach gefragt, wo sie in Berlin untergekommen war. Konnte sie sich ein Hotel leisten? Doch sie verfiel automatisch in das Denken von früher, vor mehr als dreißig Jahren, als es bei Jennifer zu Hause keine Kartoffelchips gegeben hatte, zumindest nicht die bevorzugte teure Sorte, es sei denn, sie hatte welche gestohlen, wofür sie ein gewisses Geschick besessen hatte. Warum sollte sie sich kein Hotel leisten können? Wegen des Lochs in ihrem Mantel? Der schief getretenen Absätze? Der verfilzten, alten Strickjacke? Evelyn wusste gar nichts über Jennifer. Und sie wollte auch nichts wissen.


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Den Vater anzusprechen oder auch nur zu beachten, war verboten. Trotzdem sah ich jedes Mal, wenn ich kam, verstohlen zum Tisch. Um in die Küche zu gelangen, musste man durch das höhlenartige Wohnzimmer gehen – staubig und düster und mit allem möglichen Kram vollgestopft –, ein Blick auf den Vater, und sei er auch noch so flüchtig, war also unvermeidlich. In der Küche waren die Vorhänge nicht zugezogen. Dort standen ein Tisch und Stühle, eine altmodische Anrichte und ein Käfig mit einem Kanarienvogel. Der Kanarienvogel hatte kleine schwarze Augen und trällerte manchmal. Oft blieb er aber auch stumm. Er durfte nie fliegen. Die Möbel waren abgewetzt und von Kratzern, Flecken und auch ein paar Brandlöchern übersät, die gepolsterten Sitzflächen der Stühle glänzten speckig.
    Der Vater bewegte sich nur sehr wenig, wenn er mit Stift und Papier am Tisch saß. Er wirkte ein bisschen wie ausgestopft. Oder als wären seine Batterien zur Neige gegangen. Neben ihm standen eine Tasse und ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. Wasser, was sonst. Das Glas war ursprünglich ein Senfglas gewesen, der Aufdruck noch schwach zu erkennen. Der Vater saß in dem abgedunkelten, staubigen Raum bei Kunstlicht und schrieb etwas. Es sah ungeheuer wichtig aus. Es musste wichtig sein, da er ja nicht gestört werden durfte. Dass es Kreuzworträtsel waren, die leichte Sorte, und keine philosophischen Abhandlungen oder eine komplizierte Buchhaltung, erschloss sich mir erst viel später, kurz bevor ich gar nicht mehr zu Besuch kam, und ebenso, dass sich in seinem Senfglas kein Wasser befand.
    Der Kanarienvogel in der Küche saß manchmal für längere Zeit vollkommen starr auf seiner Stange, sodass ich mich fragte, ob er möglicherweise ausgestopft war. Wie der Vater. Über den Vater wurde nicht gesprochen und eigentlich auch nicht über den Kanarienvogel. Es wurde verlangt, das benutzte Glas auf die Spüle zu stellen, das gehörte sich so und bewies gute Manieren. Gute Manieren hielten alles zusammen und adelten jede Person, auch diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. So wurde das immer genannt: Es stehen nicht alle auf der Sonnenseite. Stand ich auf der Sonnenseite? Eher nicht. Aber vielleicht nicht ganz so im Schatten wie sie. Ich hielt mich stets an diese Anweisung und stellte mein Glas auf die Spüle, bevor ich ging. Beim Verlassen der Wohnung führte der Weg erneut am Vater vorbei, wieder begleitet von dem leisen – fast geflüsterten – Verbot, ihn anzusprechen oder sonst wie zu stören.


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    Ich saß im Unterricht immer noch neben ihr, obwohl ich mir gern einen anderen Platz gesucht hätte. Aber das konnte ich ihr nicht antun. Sie hatte ja sonst niemanden. Wie meistens hatte sie die Hausaufgaben für Mathe nicht gemacht, genauso wie die für Erdkunde und Englisch. Sie schmierte wirklich ab, was sie ohne erkennbare Reaktion hinnahm. Nachdem mein Bruder mir von dem Hund erzählt hatte, beobachtete ich sie misstrauisch. Ich selbst sprach das Thema nicht an. Ich suchte nach wissendem, selbstgefälligem Grinsen in ihrem Gesicht. Wann würde sie es mir sagen? Platzte sie nicht vor Stolz? Oder hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil der Hund ein lebendiges Wesen war? Mit Blut, Fleisch, Muskeln, Knochen, einem Gehirn und Gefühlen. Wie hatte sie es gemacht? Wie angekündigt mit einer vergifteten Frikadelle? Woher hatte sie das Gift? Welche Stoffe waren überhaupt giftig? So giftig, dass es zum Tod führte? Wir waren gerade mal vierzehn Jahre alt.


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    Die Wohngruppe fand ich zuerst also ganz in Ordnung, aber sie kam erst später. Direkt nach der Tat sah alles noch anders aus. Nach der Tat kam ich in den Knast, weit weg von zu Hause, Jugendstrafanstalt, auch wenn meist vermieden wurde, es so zu nennen. Zig Psychos sprachen mit mir. Andauernd. Sie mochten mich übrigens auch nicht, das merkte ich, versuchten es aber zu verbergen. Lag wohl am Beruf. Sie wollten unbedingt wissen, warum. Warum, warum, warum. Hätten sie irgendwas davon gehabt, wenn sie die Antwort kannten? War das nicht egal? Ich wusste es ja selbst nicht so genau. Oder eigentlich wusste ich es doch, hatte aber keine Lust, es zu erzählen. Mit dem Erzählen tat ich mich grundsätzlich schwer. Außerdem ritten sie endlos auf meiner Familie herum, hatten sich richtig an ihr festgebissen. Sie beleidigten meine Familie die ganze Zeit, auch wenn das vielleicht nicht ihre Absicht war. Hörten sie sich selbst zu? Keine Ahnung. Sollten solche Psychoheinis und -tanten nicht verständnisvoller sein? Meine Familie sei dingsda. Irgendwas mit dys. Hatte ich nicht so genau verstanden, aber das sagten sie alle. Nicht unbedingt direkt an mich gerichtet, aber ich hörte sie es oft murmeln. Stammt aus einer dysdingsda-Familie, wie traurig, kein Wunder. Stand auch bestimmt in meiner Akte. Ob mein Vater mich betatscht hatte, wollte eine Psychotante immer wissen. Ob ich verprügelt wurde. Zweimal nein. Mein Vater und betatschen. Der kam ja kaum von seinem Stuhl hoch. Um Impulskontrolle ging es auch ständig. Dieses Wort hatte ich mir gemerkt. Die sei angeblich nicht so gut bei mir.

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    Das war natürlich Unsinn. Jennifer war längst wieder abgereist. Am übernächsten Tag, hatte sie zum Schluss im Hausflur gesagt, werde sie zurückfahren. Mit dem Zug. Oder hatte sie Flixbus gesagt? Egal, Hauptsache, sie war nicht mehr hier. Dieser übernächste Tag war inzwischen verstrichen. Es drohte keine Gefahr mehr. „Gefahr“, was für ein großes, übertriebenes Wort für eine ehemalige Klassenkameradin. Sie war nichts weiter als eine flüchtige Geistererscheinung an einem Abend im Februar, gar nicht real, die Evelyn jetzt schnell vergessen musste. Das sollte ihr eigentlich nicht schwerfallen, hatte sie doch seit dreißig Jahren keinen Gedanken mehr an Jennifer verschwendet. Februar, so hieß es, war in Berlin ein besonders trister Monat, der die Leute schwermütig machte, und nun hatte ihr der Februar zusätzlich einen üblen Streich gespielt. Aber irgendwann kam der März. Irgendwann kam immer der März.

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Auf der Treppe, die weiter nach oben ins Dachgeschoss führte, hockte eine dunkle Gestalt mit gesenktem Kopf. Das musste sie sein. Diese Person. Jennifer. Wer sonst. Sie belagerte das Haus. Vielleicht schon seit Tagen. Oder seit zwei Monaten? Irgendwie war sie hineingelangt. Entweder hatte ihr ein Bewohner geöffnet oder sie hatte den Moment abgepasst, als jemand das Haus verließ oder betrat und die Tür noch nicht zugefallen war. Sie war nicht fort. War es nie gewesen. Sie hatte die ganze Zeit dort draußen gelauert.