Regina Nössler: Schleierwolken

Leseproben


An diesem nichtssagenden, farblosen Tag ohne Wetter im September rettete die Polizei in einer beherzten Aktion einen Mann aus dem Landwehrkanal vor dem Ertrinken. Ungefähr zur selben Zeit befreite die Feuerwehr in einem anderen Berliner Bezirk eine alte Frau samt Wellensittich aus ihrer brennenden Wohnung. Gerade noch rechtzeitig. Frau und Wellensittich überlebten. Am Ufer des Landwehrkanals stellten die Polizisten kurz darauf fest, dass sie keinen Mann, sondern eine Schaufensterpuppe aus dem Wasser gezogen hatten.

 

Es war ein guter Tag für hilflose Personen und Vögel in aussichtsloser Lage. Aber ein schlechter für mich.

 

Das Kribbeln im Nacken, das man angeblich spürt, wenn man sich verfolgt glaubt, hatte ich immer für Einbildung gehalten. Für eine Wahrnehmung, die gar nicht möglich ist, weil wir hinten bekanntlich keine Augen haben. Bis vor ungefähr acht Wochen. Seit ungefähr acht Wochen spürte ich es selbst. Fast jeden Tag. Es kribbelte in meinem Nacken, in der U-Bahn, wenn ich einkaufen ging oder abends in einem Restaurant saß, manchmal sogar in meiner Wohnung.

 

Es war einer dieser farblosen Tage, die in jeder Jahreszeit liegen könnten, abgesehen vom Blätterstand der Straßenbäume und der Farbe des Laubs, ein leicht angeschmutzter Tag, so grau und langweilig, dass er nicht einmal deprimierend war, selbst dazu fehlte ihm die Kraft. Ich hätte nicht sagen können, ob es jetzt im September noch warm oder schon kühl war – vermutlich weder noch, sondern etwas Undefinierbares dazwischen. Es musste geregnet haben, denn die Straße glänzte feucht. Falls dafür nicht ein Putzfahrzeug der Berliner Stadtreinigung verantwortlich war.

 

Ich hörte Schritte hinter mir. In meinem Nacken kribbelte es. Die Schritte, schneller als ich, kamen näher. Seit acht Wochen hörte ich andauernd Schritte hinter mir, das machte mich noch ganz verrückt. Ich war eine ziemlich uninteressante Person. Wer sollte mich verfolgen? Und aus welchem Grund? Ich war davon überzeugt, dass nur interessante, berühmte oder wichtige Menschen verfolgt wurden. Nichts davon traf auf mich zu.


»Willst du mich vergiften?«, fragte sie.

 

Manchmal kochte ich abends, wenn ich meine Mutter besuchte. Die Arbeitsplatte in der Küche des viel zu großen Hauses, die Griffe der Schränke und ihre Oberflächen waren von einem klebrigen, fettigen Film überzogen. War das schon immer so gewesen? Oder erst seit Neuestem? Nein, es konnte nicht schon immer so gewesen sein.

 

Meine Mutter hatte, seit ich denken konnte, für einen perfekten Haushalt gesorgt. Perfekt sauber. Man hätte sprichwörtlich vom Boden essen können. Jetzt nicht einmal von der Arbeitsplatte. Ich ekelte mich jedes Mal. Und sobald ich mich ekelte, ein nicht erlaubtes und unerhörtes Gefühl, meldete sich natürlich das schlechte Gewissen zu Wort: Du darfst deine Mutter doch nicht ekelhaft finden! Auch nicht ihre Küche. Deine Mutter hat dich genährt. All die Jahre genährt und nur hin und wieder verdroschen. Eigentlich waren es ja nur ein paar Ohrfeigen. Und dafür gab es immer einen triftigen Grund, das musst du doch zugeben.

 

»Willst du mich vergiften?«, wiederholte meine Mutter und stach auf ein Stück Tomate ein. Sie machte zwar nicht die empfohlene Krankengymnastik, sorgte sich ansonsten aber ständig um ihre Gesundheit und nahm so viele Nahrungsergänzungsmittel zu sich, dass ich mich manchmal fragte, was für wilde chemische Reaktionen sie in ihr auslösten. »Das Grüne ist doch giftig! Weißt du das etwa nicht?«

 

»Du müsstest ungefähr hundert Stück davon essen, mindestens, bevor es giftig wird.«

 

»Nein, das ist giftig!«, beharrte meine Mutter. »Ich schneide das Grüne ja immer raus. Und übrigens esse ich abends auch nicht gern so viel. Das bekommt meiner Galle nicht. Das weißt du doch.« Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck schob sie das Schälchen mit dem Tomatensalat von sich.

 

Und genau diese beiden Dinge, dass sie den Tomatensalat von sich schob, ihn verweigerte, und ihr angewidertes Gesicht, machten mir etwas aus. Machten mir viel mehr aus, als ich mir eingestehen wollte. Ein unangenehm heißes Gefühl, wie Scham. Zurückweisung. Meine Mutter lehnte mich ab, und das ertrug ich auch mit sechsundvierzig noch nicht. Meine Mutter lehnte meine Art zu leben insgesamt ab, wie ich wusste, deswegen hatte ich gehofft, wenigstens beim Tomatensalat würden wir uns finden, eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Ich hasste dieses Gefühl. Ich hasste es, dass es immer noch so viel Macht über mich hatte. Wegen Tomaten! Zurückgewiesen, nicht wertgeschätzt wegen verdammter Tomaten!


Konnte man meine Gedanken sehen? Meine Mutter war diesmal besonders anstrengend gewesen, es gab nichts, worüber sie nicht gemeckert hatte, es begann schon am frühen Morgen, wenn sie ihre Medikamente zusammensuchte, ohne die sie, wie sie sagte, auf der Stelle tot umfallen würde – » Aber das wäre dir ja nur recht« –, und endete erst am späten Abend. Ich war erschöpft. Ich war nach diesem Wochenende unendlich erschöpft und wollte, dass sich der Zug beeilte, damit ich bald zu Hause wäre. Eine Meckersalve war auf die andere gefolgt, ein Maschinengewehrfeuer des Meckerns, den ganzen Tag lang, ohne Unterbrechung.

 

Diesmal hätte es eine gute Gelegenheit gegeben. Meine Mutter war die viel zu steile Kellertreppe nach unten gestiegen. Ich dicht hinter ihr. Die Kellertreppe war wegen der Gefahr eines Sturzes eigentlich schon länger für meine Mutter tabu. Es hatte auch keinerlei Notwendigkeit bestanden, gemeinsam in den Keller zu gehen, meine Mutter hatte mir nur trotzig beweisen wollen, dass sie die Treppe noch problemlos schaffte, das große Haus noch im Griff hatte. Kurz davor hatte ich wieder das betreute Wohnen angesprochen. Meine Mutter war die lebensgefährliche Treppe nach unten gestiegen, und ich hatte gedacht: Jetzt. Nur ein kleiner Stoß. Dann hört das Meckern auf und die ständigen Reisen ins Ruhrgebiet.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke