Ina Paul: Im freien Fall

Leseprobe


 

Der russische Soldat war plötzlich da, wie aus dem Nichts gekommen, lautlos, ein kleiner, unansehnlicher, o-beiniger Mann in abgetragenen Stiefeln, Tarnhose und Russenbluse, mit einem abgeschabten Riemen gegürtet, auf dem Kopf ein Käppi, unter dem große abstehende Ohren und der kahlgeschorene Hinterkopf hervorsahen.

 

Wir sagten: »Ssdrawstwui!« – »Sei gegrüßt!«, ein Gruß, wie er unter Freunden üblich ist.

 

Er antwortete mit dem Plural: »Ssdrawstwuitche!« – »Seid gegrüßt!«

 

Wir streckten ihm die Hand hin, gleichzeitig. Er nahm meine, ließ sie nicht los, drehte sie zur Seite, drehte mich an meiner Hand um meine Achse, warf mich zu Boden. Der Fotoapparat, die Box, die mein Vater mir anvertraut hatte, sein wertvollster Besitz, mein wertvollster Besitz, flog ins Moos, während der Mann sich auf mich warf.

 

Irgendwie gelang es mir, ihn abzuwerfen und aufzuspringen, aber ehe ich hätte weglaufen können, musste ich mich bücken, um die Box zu retten, und im nächsten Moment war der Mann wieder über mir und warf mich ein zweites Mal zu Boden, alles ohne einen einzigen Laut.

 

Kein Laut aus dem Mund des Mannes, kein Laut aus einer Mädchenkehle. Und kein Gefühl. Kein Gefühl, an das ich mich erinnern könnte.

 

Meine Freundin Christel aber, das Mädchen mit den zierlichsten Füßen und Händen der ganzen Schauspielgruppe, war nicht davongelaufen, sondern fing auf einmal an, mit ihren kleinen Fäusten auf den Rücken des Mannes einzuschlagen, mit einer solchen Kraft, dass ich die Schläge fühlen konnte, durch den Körper des Mannes hindurch.

 

Und daran kann ich mich erinnern: Schläge wie Maschinengewehrfeuer in einem Kriegsfilm ohne Ton.

 

Der Mann sprang auf, und im nächsten Augenblick war er ebenso plötzlich zwischen den Kiefern verschwunden, wie er aufgetaucht war. Und wenn ich nicht wüsste, dass die Stille in diesem Kiefernwald vollkommen war, würde ich denken, ich hätte mein Herz schlagen gehört.

 

Wir brauchten keine Verständigung, wir waren uns einig: So etwas durfte es nicht geben! Nicht solche Taten, auch wenn es sich nur um den Versuch einer Tat handelte! Nicht unter dem Banner der Völkerfreundschaft! Hatten wir vielleicht »Drushba« gesagt zu dem Mann – »Freundschaft«? Hatten wir irgendetwas getan, das den Mann glauben lassen konnte, wir wären zu irgendetwas bereit?

 

Heute, ein halbes Jahrhundert später, weiß man, dass es häufig die Opfer sind, die die Schuld bei sich suchen. Fast immer. Daher die Angst, die Scham und das Schweigen.

 

Ich besitze zwei, mit der alten Box meines Vaters aufgenommene Fotos, schwarz-weiß, oder grau. Das eine zeigt meine Freundin, in ihrem aus Resten gehäkelten Sommerpullover, die nackten Beine in den viel zu weiten Shorts, im Arm einen Strauß Heidekraut, vor der Kulisse eines Kiefernwaldes. Das andere zeigt mich, in meinen etwas zu kurz geratenen Shorts und einem grauen Plüschpulli, von dem ich weiß, dass er dunkelgrün war, im Arm meinen Strauß Heidekraut, vor derselben Kulisse. Und wüsste ich nicht, dass wir das Heidekraut erst nach der Tat, oder der verhinderten Tat gepflückt haben, würde ich denken, es handele sich um zwei ganz normale Ferienfotos, denn der Ausdruck der Trauer auf den beiden Mädchengesichtern könnte wohl auch von unerfüllten Sehnsüchten hergerührt haben.

 

*

 

Wir brauchten keine Verständigung, um nach der verhinderten Tat die Kaserne der sowjetischen Armee zu suchen, die irgendwo in der Nähe liegen musste. Und wir brauchten nur wenige Worte, um uns darüber zu verständigen, dass Christel die Wortführerin sein würde, war doch ihr Russisch soviel besser als meins, fast perfekt.

 

Wir fanden die Mauer, die das Armeegelände umgab, das Tor, den Wachhabenden, verlangten den diensthabenden Offizier zu sprechen, mit Bestimmtheit, der wurde telefonisch gerufen, kam.

 

Christel erklärte ihm in flüssigstem Russisch, warum es so etwas nicht geben dürfe, nicht solche Taten, nicht mal die Versuche! Und was die Menschen im Ort denken würden, wenn sie davon erführen!

 

Der Mann war jung, vielleicht Dreißig, hörte zu, ernst, sagte »Da!« – »Ja!«

 

Mehr konnten wir nicht tun. Hatten klargestellt, so etwas sei ganz und gar unmöglich! Um der deutsch-sowjetischen Freundschaft willen! Das solle er wissen! Und weitergeben!

 

»Da« – »Ja«, sagte der Mann. Rückte sein Koppelschloss zurecht. Versprach, nach dem von uns beschriebenen Soldaten zu suchen und ihn zur Rede zu stellen, sofern er zu seinem Standort gehören würde und nicht zu dem Sanatorium am anderen Ende des Sees.

 

Wir hatten getan, was zu tun war. Wir gingen zurück durch den Kiefernwald. Wir pflückten Heidekraut, unerklärlich warum. Wir machten jede ein Foto der anderen mit einem Heidekrautstrauß im Arm.

 

 

Wir brauchten keine Verständigung, um zu wissen, dass wir nichts von dem Vorfall erzählen würden, niemandem, niemals, nicht mal dem eigenen Tagebuch.

 

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke