Udo Oskar Rabsch: Der gelbe Hund

Leseprobe


»Sie waren in der Army?«

»Nein.«

»Warum sind Sie dann zurückgekommen?«

»Ich bin nicht zurückgekommen.«

»Kann sein, kann nicht sein. Aber lassen wir das. Was haben Sie gemacht da drüben?«

 

A. D. Adams wusste es nicht mehr genau. Wenn man ihm gesagt hätte, dass er Soldat, Bauarbeiter, Zimmermann, Kellner, Gärtner oder Arzt gewesen war, dann hätte er es bejaht, der Reihe nach. Er hätte auf seine Hände geschaut und hätte es bejaht, weil er mit diesen Händen das Gewehr und den Zement und das Holz und die Teller und die Pflanzen und die Menschen angefasst hatte, irgendwann einmal.

 

Aber er selbst, ohne diese Hände, hätte es nur so obenhin bejaht, flüchtig, wie einer, der nicht zuhörte und einfach ja sagte oder wie einer, der etwas Lästiges loswerden wollte, weil er es vergessen hatte und sich nicht extra erinnern wollte und weil er vermutete, dass er es schon damals alles nicht wirklich getan hatte, sondern sich nur eingebildet hatte, dass er es tat.

 

Er hätte ja gesagt wie einer, der eine Meldung in der Zeitung liest, bestimmte Daten vergleicht und sich gezwungen sieht, zuzugeben, das bin ja ich, das habe ja ich getan. Aber dieses Ich-Sein gehörte nicht zu ihm. Es war wie durch eine Umnachtung von ihm getrennt.

 

Er schaute in die Augen des Michelangelo Guerra, die aus der Dunkelheit des Zimmers hervortraten und flackerten wie zwei Grablichter.

 

»Soll das ein Verhör sein? Was starren Sie mich so an? Bin ich ein Verbrecher? Soll ich zugeben, ja, ich bin ein Mörder, ja, ich haben einen umgebracht?«

José hustete, ohne etwas zu sagen. Michelangelo Guerra schaute zu ihm hinüber, nickte, und schaute wieder auf A. D. Adams.

»Ruhig Blut, junger Mann, ruhig, ruhig.«

 

Er erhob sich ächzend, stützte sich auf den Tisch und ging gebeugt an ihm entlang. Dann richtete er sich auf. Sie hatten die gleiche Größe. Er könnte mein Sohn sein, dem Alter nach, dachte der Don und er dachte verächtlich an seinen leiblichen Sohn, der zu nichts taugte.

 

»Ich glaube, das Klima hat sich geändert. Seit dem großen Krieg, genau genommen seit Ende des Krieges, fünfundvierzig, das war das erste Jahr mit diesem ewigen Levante, den Missernten, der massenhaften Auswanderung. Kein Regen und dieser Wüstensand zwischen den Zähnen. Das ist kein Verhör. Das ist ein Gedankenaustausch. Wie war das Wetter in Amerika?«

»So und so. Amerika ist groß.«

»Ja, groß. Diese Insel hier ist gerade mal so groß wie eine einzelne große Farm im mittleren Westen.« Er wischte sich das Gesicht ab und die offene Brust. »Aber hier haben wir noch das Meer. Wenn man das Meer dazurechnet …«

 

Er ging ans Fenster. Er sah rechts an den Stallungen vorbei über die Wipfel der Bananenstauden aufs Meer hinunter. Es war da. Wie immer. Man konnte sich verdammt noch mal darauf verlassen, dass es da war.

 

Er sah den Hund.

 

»Was macht der streunende Bastard da draußen wieder? Ich habe doch gesagt, dass man ihn abknallen soll. Und ans Scheunentor hängen, zur Warnung.«

»Er ist zu schnell. Wir haben es versucht. Aber er ist schlau wie eine Ratte.«

»Ach was. Der hat die Pest, so wie er aussieht. Gib mir das Gewehr rüber.«

José ging zum Gewehrschrank und brachte das Jagdgewehr.

»Hol die Patronen. Es sind keine Patronen drin.«

Michelangelo Guerra, der vorher noch schläfrig und langsam gewesen war, war plötzlich hellwach. Er huschte leichtfüßig zum Fenster.

»Verdammt. Er ist abgehauen. Wenn man nicht alles selber macht.«

Michelangelo Guerra warf das Gewehr weg. José fing es auf. Guerra ließ sich in den Sessel fallen. José legte das Gewehr zur Seite und trat einen Schritt vor. Er hielt den Hut vor sich hin und stand in gebückter Haltung.

»Der Señor möchte ein Wasserrecht beantragen. Er hat ein Konto auf der Hispano-amerikanischen Bank.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte der Don und schloss die Augen.

 

Er war der größte Bananenbesitzer, der größte Wasserbaron, der Bürgermeister von Los Llanos und der Besitzer der Hispano-amerikanischen Bank. Die Westseite war so gut wie sein Privatbesitz. Er hatte die Verantwortung für alles. Er schwieg eine Weile, dann wollte er etwas sagen, aber entschloss sich, sein Schweigen in die Länge zu ziehen. Es war immer gut, wenn man erkennen ließ, dass man zu allem anderen auch noch über die Zeit verfügte.

 

»Kennen Sie die Nike Herzsieg?«, fragte er schließlich, ohne die Augen zu öffnen. »Sie will Sie umbringen. Wieso will eine herzensgute Schönheit, eine junge Frau, von der jeder hier weiß, dass sie ein Engel ist, wieso will ausgerechnet die Sie umbringen?«

»Weiß ich nicht. Ich kenne sie nicht.«

 

Der Don drückte sich das Frotteetuch ins Gesicht. »Sie kennen Sie nicht«, brüllte er in das Tuch hinein. Jeder kannte sie, jeder hatte mit ihr zu tun. Die halbe Insel befand sich in einem Delirium der Sehnsucht nach dieser Frau. Jeder hätte wer weiß was dafür gegeben, von ihr angeschaut oder gar von ihr berührt zu werden. Irgendwann würde er kurzen Prozess machen damit.

 

»Ich kenne sie nicht.«

 

Michelangelo Guerra nahm das Handtuch weg und starrte den Fremden an. Ein perfekter junger Mann, Mitte dreißig, schlank, muskulös. Das Gesicht ungerührt, ebenmäßig, Stirn, Nase, Mund, Kinn, aus Stein gehauen, nicht zuviel und nicht zu wenig. Wenn es nicht sprach, war es fast ausdruckslos, ohne Eigenschaften. In den Augen flackerte eine Unsicherheit, wenigstens das.

 

»Sie kennen sie nicht.«

»Ich kenne sie nicht.«

»Sie haben sie vergessen?«

»Nein.«

 

Michelangelo Guerra war kein Kirchgänger. Aber wie alle guten Atheisten kannte er seinen Gott. Und er kannte die religiöse Dramaturgie in- und auswendig, weil er sie für seine Auftritte brauchte. Er dachte an Petrus, der auch gefragt wurde, ob er nicht der Freund des schuldig gesprochenen Jesus war. Er dachte auch, aber undeutlich, er wischte den Gedanken ärgerlich fort, dass er, Michelangelo Guerra, Petrus hätte gewesen sein können, dass er aber einer gewesen wäre, der Jesus herausgehauen hätte.

 

»Schon gut. Nein, nein, nein. Das sagt sich so einfach, immer schon. Aber aus einem anderen Leben vielleicht?«

»Was für einem Leben?«

»Jeder hat eine zweite Chance.«

 

A. D. Adams sah zur Seite. Die letzte Bemerkung kam gerade rechtzeitig, um zur Seite zu sehen. Dort sah er den Schatten einer Eidechse. Glücklicher Tod. Oder war es noch die Eidechse selbst, die über den Fenstersims lief? Oder war es ein Gecko gewesen, oder der Schatten eines Geckos? Vielleicht erzeugten die Schatten die Körper, die sie warfen und nicht umgekehrt. Bei den Kieseln am Strand konnte man sich sicher sein. Wenn sie überhaupt einen Schatten warfen, so war er ihnen so unähnlich, dass man ihn auf keinen Fall mit dem Stein selbst verwechseln konnte.

 

»Ich nicht«, sagte er.

»Na gut«, sagte der Don, »es hat Ärger gegeben. Ich will keinen Ärger auf meiner Seite. Ich schlage vor, Sie ziehen um.«

»Ich ziehe nicht mehr um. Ich habe mich bereits eingerichtet.«

»Aha. Sie ziehen nicht mehr um. Der Herr ist hochmütig. Er ist anders. Er träumt lieber. Er ist nicht bei der Sache.«

»Ich will einzig und allein ein Wasserrecht. Ich weiß nicht, was ich sonst hier zu tun hätte.«

 

José bewegte seine Arme beschwichtigend auf und ab, auch wenn er genau sah, dass er lächerlich war, mit dem schlappen, zerrissenen Strohhut in der Hand. Er traute sich nicht, ihn auf die Tischplatte zu legen. Mal fuchtelte er so zum Don hin, mal zu A. D. Adams. Zum Don unterwürfig, kriecherisch, zu A. D. Adams herrisch, stellvertretend für den Don, bei dem er hoffte, dafür gelobt zu werden.

 

»Lass nur, schon gut, schon gut«, sagte der Don, »der fremde Señor gehört nicht zu uns. Er hat einen teutonischen Akzent, aber er ist Amerikaner. Er ist schwach und alleinstehend, aber große Hände beschützen ihn. Er hat alles vergessen, aber er weiß genau, was er will. Er gehört zu niemandem, aber er denkt, er kommt alleine durch. Vielleicht ist er arm, vielleicht ist er reich, vielleicht ist er ein Philosoph, vielleicht ist er ein Dieb. Niemand weiß etwas von ihm und er will von niemandem etwas wissen. Dabei sollte man sich ein bisschen Mühe geben, das zu tun, was üblich ist, auf so einer verdammt kleinen Insel am Rand der Welt.«

 

»Ich will nur eine Handvoll Wasser in der Viertelstunde.«

»Ich will, ich will. Ich will auch etwas. Fragt mich jemand, was ich will? Ich war mit der Fähre drüben auf Tenerife. In der Universität. Sie haben mein Herz untersucht.«

Er machte eine Bewegung mit beiden Armen, die er anhob, als wollte er in den Himmel zeigen, ihn bitten, die er dann aber gleich wieder sinken ließ.

 

»Das Herz«, sagte er dann bitter, leise, als hätte es ihn verraten, als hätte es ihm etwas versprochen, was es ihm letztendlich nicht geben konnte.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke