Karin Rick: Chaosgirl

Leseprobe


Ich nicke und es geht mir verdächtig gut in diesem Durchgangsraum, ich frage mich plötzlich, was ich hier suche. Ich tue ja ganz so, als würde ich hierher gehören, vorhin noch hat sie mich im Caféhaus genervt mit ihrem Gequatsche, und jetzt stehe ich vor ihrem Computer und will nicht weg.

 

Ich fasse nach den Vitrinentüren und ziehe sie verlegen millimeterweise auf und dann wieder zu, während ich müßige Sätze von mir gebe, in Antwort auf das, was Anita über diese Musik verkündet.

 

„Zeig mir die CD“, sage ich.

„Ist aber eine selbst Gebrannte.“

„Das sehe ich“, antworte ich überflüssigerweise und fasse danach, ohne erkennen zu können, was drauf ist, weil das Cover eine verschwommene schwarz-weiß Kopie ist.

Dann halte ich es nicht mehr aus und wende mich zur Tür.

„Na gut, ich werde jetzt noch etwas arbeiten“, sage ich und denke, das glaubt mir kein Mensch, an einem Freitag um halb drei am Nachmittag.

 

In diesem Moment spüre ich das Unerledigte in diesem Raum. Es ist falsch, jetzt zu gehen. Tausende kaum fühlbare Fäden wollen mich zum Hierbleiben zwingen, sind aber so dünn und unmerklich, dass es nicht gelingt. Anita jedoch lacht plötzlich auf.

„Es ist nicht ohne, mit dir allein in einem Raum zu sein“, platzt sie heraus.

Ich glaube mich verhört zu haben. Ihre Direktheit schneidet mir die Luft ab. Ich will den Satz ignorieren.

„Wieso? Wie meinst du das?“, rutscht es mir im Gehen dann doch heraus. „Ich habe doch gar nichts gemacht.“

„Eben deshalb“, antwortet Anita. „Weil du nichts gemacht hast.“

 

Ich gehe ihr voraus auf den Gang, zur Tür, die auf das Stiegenhaus mit dem Aufzug führt, und fasse nach der Klinke. Mir wird heiß. Jener Widerstand, den man normalerweise Menschen gegenüber aufbaut, die keine Liebespartner sind, ist verschwunden. Als wäre bei einer Pferdekoppel die Tür geöffnet worden und die Tiere galoppierten heraus. Aber ich kann mit diesen Situationen nicht umgehen, immer wieder überfallen sie mich wie etwas ganz Neues, noch nie da Gewesenes. Am liebsten hätte ich ein kleines Zeichen der Zuneigung gemacht, Anita die Hand auf die Schulter gelegt etwa. Habe aber Angst, damit einen Erdrutsch zu verursachen.

 

Es ist fatal mit Frauen, denke ich. Immer gleich diese Nähe, dieses Glatteis, diese Gefährlichkeit.

 

„Also dann bis bald“, sage ich lachend und sie, „Gott sei Dank spricht keine von uns aus, was sie jetzt denkt.“

„Wieso?“, frage ich, „was denkst du jetzt?“

Schon schließe ich die Tür wieder, ich halte die Klinke fest nach oben gedrückt, so dass vom Treppenhaus her nun niemand herein kann, absurd in einem Amtsgebäude, in dem eine Partei oder eine Kollegin jeden Moment merken könnte, dass die Tür von innen zugehalten wird.

 

Ich klammere mich an dieser Klinke an, als würde ich Anita nun nötigen wollen, sich zu erklären. Das Zuhalten der Tür ist wie die Gewalt, die ich ihr nun antun könnte, wenn sie nicht sofort offenbart, was sie denkt. Sie merkt das nicht, natürlich nicht, verwoben wie wir beide sind, in Reaktion und Gegenreaktion, in Spüren, Ahnen und Ausweichen.

 

„Also, was denkst du jetzt?“ wiederhole ich und presse gebieterisch die Klinke weiter nach oben.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke