Yoko Tawada: Mein kleiner Zeh war ein Wort

Leseprobe


Mammalia in Babel: Der erste Akt

nach einer großen Flut

 

 

 

EICHHÖRNCHEN: Sind die Menschen ertrunken, weil sie nicht bereuen konnten?

 

BÄR: Beim Homo sapiens ist der Kopf an einer ungünstigen Stelle angebracht. Aus anatomischem Grund ertranken die Menschen leicht. Mehr Gründe gab es nicht. Eine misslungene Konstruktion. Wer ist verantwortlich dafür?

 

EICHHÖRNCHEN: Ich habe genau das Gleiche gedacht. Erstens haben sie kein Steuerorgan. Deshalb können sie nicht auf einem schmalen Zweig balancieren. Demonstriert angeberisch seinen buschigen Schwanz. Der Fuchs und die Katze machen es ihm nach. Der Bär und der Hase sehen sich beschämt an.

 

HUND: Keiner von euch versteht die Größe der Menschheit. Die Menschen hatten den Schwanz im Gehirn.

 

FUCHS: Es hört sich pervers an.

 

BÄR: Es lag doch an keiner Misskonstruktion, sondern nur an einer Krankheit. Die Menschen hatten zum Beispiel kaum Körperhaar. Man sagt, sie hätten eine tödliche Strahlung abbekommen und ihre Körperhaare verloren.

 

FUCHS: Ihr Maul war an einem flachen Gesicht angebracht. Deshalb konnten sie nicht ordentlich zubeißen.

 

EICHHÖRNCHEN: Ihre Augen waren nicht seitlich des Gesichtes montiert, so dass ihr Blickfeld beengt war.

 

HASE: Weil ihre Ohren zu tief platziert und ihre Ohrläppchen zurückgebildet waren, konnten sie kein Geräusch aus der Ferne hören.

 

FUCHS: Die Menschen konnten weder besonders schnell laufen noch einigermaßen hoch springen. Sie dachten sich eine diskriminierende Regel aus, nach der nur der Homo sapiens an der Olympiade teilnehmen darf. Wenn ein Känguru beim Dreisprung mitgespielt hätte, hätte kein Mensch die Chance gehabt, die Goldmedaille zu gewinnen.

 

KATZE: Die Menschen waren nachtblind, gingen aber nie bei Sonnenuntergang ins Bett. Sie blieben lange wach, ohne einen einsehbaren Grund, und verschwendeten Elektrizität.

 

HUND: Die Nase der Menschen hat kaum etwas anderes geleistet als Nasenschleim rauszulassen. Als Geruchsorgan war sie nicht zu gebrauchen. Die menschliche Nase konnte nicht einmal einen Stuhl, auf dem das eigene Kind gerade gesessen hat, von einem anderen Stuhl, auf dem ein fremdes Kind gesessen hat, unterscheiden. Ach, was rede ich überhaupt. Der Geruchssinn der Menschen hat sich zurückgebildet, weil es besser ist, wenn man nicht genau alles riechen kann. Die Klassenräume und die Arbeitsplätze der Menschen stanken nach Angstschweiß. Es ist katzenleicht, über die Menschen negativ zu reden. Deshalb müssen wir damit aufhören. Es ist hingegen eine große Leistung, sie zu loben. Deshalb erklären wir, die zivilisierten Hunde, es zu unserer Aufgabe, gute Eigenschaften der Menschen herauszufinden und sie bekannt zu machen. Die Menschen waren herrlich!

 

KATZE: Wenn es so ist, warum sind sie ausgestorben?

 

HASE: Weil der Kapitän der Arche Noah sie nicht an Bord gelassen hat.

 

KATZE: Warum?

 

HASE: Weil die Menschen den Kapitän verachtet haben.

 

BÄR: Der Kapitän war eine schöne Frau. Ihr Unterleib war wie bei einem Fisch. Ihr Ehemann war auch eine Frau. Ihr wuchsen Flügel aus dem Rücken.

 

FUCHS: Ich habe den Kapitän verehrt.

 

HASE: Ich auch. Die Menschen dachten, jeder, der zahlt, darf mitfahren.

 

BÄR: Aber es gab keine Fahrkarte, die man kaufen konnte oder sollte. Zum Glück besaß ich kein Geld.

 

FUCHS: Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich will nicht angeben, aber es ist ein Fakt, dass ich früher strahlend reich war. Ich besaß sogar einen Halspelz aus Fuchspelz. Aber mittlerweile hat meine Krankheit mein ganzes Vermögen aufgefressen. Es war eine seltsame Krankheit. Immer, wenn ich etwas Fuchsrotes im Angebot sah, musste ich es sofort kaufen. Ich weiß nicht warum. Ich wollte kaufen, kaufen, kaufen, kaufen. Ich konnte nicht mehr einschlafen, bis ich das nächste Fuchsrote gekauft hatte. Es war mir egal, was es kostete. Bezahlte ich Geld, stieg meine Stimmung.

 

BÄR: Stieg deine Stimmung? Wenn du so redest, bekommst du bald Depressionen wie ein Mensch.

 

FUCHS: In der Tat leide ich seit letztem Dienstag an Depressionen. Und am Mittwoch wurde mir schon das Arzneimittel geliefert, ohne dass ich es bestellt hatte. In der Packungsbeilage stand, dass man es zurückschicken dürfe, wenn man keinen Gebrauch davon machen könne. Die Rechnung müsse man jedoch sofort bezahlen, wenn man die erste Tablette zu sich genommen habe. Das war eine der legalen Betrügereien, die sich die Menschen ausgedacht hatten.

 

BÄR: Meint ihr wirklich, dass die Menschen aus ethischen Gründen ertrunken sind? Ist so ein Urteil nicht viel zu menschlich?

 

FUCHS: Ich dachte, die Menschen sind Lügner, dazu noch eitel, schlau und bösartig. Aber vielleicht sind das nur Klischees. Und selbst wenn die eine oder andere Zuschreibung zutreffen sollte, würde ich mich nicht wegen kleiner Charaktermängel aufregen. Was ich als Gott des Feuers nicht akzeptieren konnte, war, wie die Menschen mit dem Feuer spielten.

 

BÄR: Sie liebten Kriege.

 

HASE: Sie liebten eher, Waffen zu verkaufen.

 

BÄR: Manche liebten es, durch Waffenhandel Geld zu machen. Andere liebten zwar den Krieg als solchen, aber sie wollten selber nicht Soldat sein. Und dann gab es auch noch solche, die den Krieg hassten, aber durch ihn gestorben sind.

 

FUCHS: Findet ihr das gut, dass es keine Menschen mehr gibt?

 

HASE: Mir ist es eigentlich egal, ob es Menschen gibt oder nicht. Und dir?

 

FUCHS: Mir ist es auch egal. Wenn ich eine Stimme abgeben sollte, würde ich für die Erde ohne Menschen abstimmen.

 

BÄR: Ich bin auch deiner Meinung.

 

EICHHÖRNCHEN: Mir ist es ganz egal.

 

KATZE: Es ist mir lieber, wenn es Menschen gibt.

 

HUND: Eine Welt ohne Menschen ist sinnlos! Hätte es keinen Menschen gegeben, gäbe es das Wort „Hund“ nicht. Eine lange Pause. Ist es wirklich wichtig, dass ich ein Hund bin?

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke