Ulrike Voss: Alicia

Leseprobe


Das zweite Mal begegnete ich Alicia nach meiner Prüfung. Ich feierte in einer Kneipe und sie war auch da. Vorher hatte ich sie dort nicht wahrgenommen.

 

Sie schenkte mir rote Rosen. So etwas Kitschiges war mir lange nicht passiert. Ich blickte sie an und war erregt. Draußen gewitterte es. Das erste Mal in diesem Sommer. Briefwechsel der Romantikerinnen. Sie hatte sich darüber amüsiert. Ich bemerkte ihren Blick vom anderen Ende der Bar. An diesem Abend nach der Prüfung war ich so müde, dass mir, obwohl es doch mein Fest war, auf dem Barhocker die Augen zufielen und ich beinahe abrutschte.

 

Plötzlich stand sie mit diesen sechs roten Rosen vor mir, wo immer sie die nachts herbekommen hatte. Ich schreckte hoch. Schwarze Augen in der Dämmerstimmung. Eine Sekunde lang war alles still. Als würden alle zu uns schauen. Die Hitze schoss mir in die Wangen. Und zischte hinunter bis zu den Zehenspitzen.

 

Der Moment war vorüber und keine hatte uns bemerkt, Sabine nicht und auch die anderen nicht, die Gespräche um uns summten weiter, als ich schläfrig mit Alicia die Kneipe verließ. Sabine, die etliche Gläser Wein intus hatte, laberte gerade eine Dozentin voll, von der sie mir schon ziemlich oft vorgeschwärmt hatte. Sabine konnte entsetzlich viel reden. Im Laufe eines Gesprächs erzählte sie oft dasselbe in fünf Variationen.

 

*

 

„Du hast ein zauberhaftes Bäuchlein“, sagte Alicia, als sie neben mir kniete. Ich saß auf dem Sessel in ihrem engen Zimmer mit nur dieser einen bequemen Sitzgelegenheit und ihre Hand schob sich von unten durch meine weiten Sommershorts. Die Schwüle hatte wieder zugenommen, ein neues Gewitter drohte.

Sie flüsterte: „He, Süße, du trägst ja keine Unterwäsche!“

Ich murmelte: „Wegen der Hitze!“, floss ihr entgegen und wunderte mich über die Lust, mit der ich nicht gerechnet hatte. Ich fragte mich auch, ob es nur die Erleichterung nach der gut überstandenen Prüfung war und ich mit jeder hätte Sex haben können und mich jede mit einer Rose entzündet hätte. War aber viel zu müde, um weiter darüber nachzudenken.

 

Ihre Finger fickten mich kurz und zielgerichtet und ich kam auf dem kühlen Kunstleder, während die ersten fernen Donnerschläge zu hören waren. Dann brachte sie mich ins Bett. Ich schlief sofort ein und erwachte von Hitze. Es war nicht mehr die Sommerhitze, die Nacht war kühl nach den Gewittern. Sie war es, sie lag an meinem Rücken und dampfte in mich, ihre Hand bewegte sich langsam über meine Hüfte zu den Lippen, ohne sie zu berühren, ein Atemhauch, ein Traum.

 

Am Morgen tranken wir schlechten Kaffee aus einer müde tröpfelnden Kaffeemaschine, sie erzählte von ihrer Arbeit am Theater und einem aktuellen Kindertheaterstück und ich tat so, als würde ich mich für Kindertheater interessieren. Dabei dachte ich nur daran. Ob es noch einmal passieren würde? Oder ob es bei dieser einen heißen Nacht bliebe, bei einmal heftig kurzem Sex? Hier, im engen Theatergastzimmer, das sie immer bewohnte, wenn ihre Kindertheatertruppe eine Serie von Auftritten hatte und sie zu müde war, die dreißig Kilometer zu ihrem Häuschen zu fahren, begann ich, mich zu verlieben.


Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal leckte. In der Nacht zuvor war sie melancholisch geworden. Es war ein sehr warmer Herbsttag. Sie erklärte es damit, dass schon der Spätsommer und auch solche warmen Herbsttage sie manchmal so traurig machten. Alles zeige sich in überquellender Schönheit, dann aber komme der Winter, die dunkle Zeit.

 

Ich versuchte sie zu beruhigen, verstand nicht, wie man wegen der Natur traurig sein konnte, sagte: „Aber es gibt doch oft noch so schöne Novembertage! Und auch im Winter.“ Doch das Reden nutzte nichts, das spürte ich. Die Gründe der Traurigkeit, die ich in dieser Nacht das erste Mal an ihr kennenlernte, würden mir verschlossen bleiben.

 

Wir schliefen wenig in dieser Nacht, standen früh auf, es war noch kühl, aber draußen auf ihrer Terrasse stand schon die Sonne. Sie warf sich ein Hemd über, machte Kaffee, schnitt Brot und richtete ein Frühstück her. Ich konnte früh meist nur Kaffee trinken, sie brauchte schon etwas zu essen. Wir frühstückten inmitten der überquellenden Rosen. Sie blühten vom Frühsommer bis in den Spätherbst. Die Sonne hatte die Kissen bereits erwärmt und als ich mich hinsetzte, fühlte ich mich aufgehoben. Sie saß mir gegenüber, lachte mich an, mein Po auf dem sonnenwarmen Kissen, es war wieder so eine Sekunde. Ich liebte sie unbändig und wagte nicht, es auszusprechen, anstelle dessen küsste ich sie und küsste sie weiter den Hals hinunter, öffnete ihr Hemd und legte meine Hände auf ihren Busen, ihren Bauch, ließ sie liegen, bewegte mich kaum, küsste und küsste und begann, sie zu lecken, meine Hände blieben die ganze Zeit ruhig auf ihrem harten, durchtrainierten Bauch, ich leckte sie langsam, der Kastanienduft ihres Saftes, die Rosen, diese Nähe, die Sonne wanderte und wärmte unsere nun nackten Körper, bis sie kam.

 

Wir verharrten, umschlossen von Wärme, ich auf ihrem Bauch, das warme Kissen in ihrem Rücken, sie sah uneingeschränkt glücklich aus. Dann plauderten wir weiter, tranken den kalten Kaffee und sie lachte, die Augen, waren sie goldbraun in dem Moment, in dem sie sagte: „Danke. Und nun schulde ich dir einen Orgasmus.“

 

Sie machte keine Anstalten, ihn mir gleich zu bereiten, und wir plauderten, ihre Traurigkeit war wieder da, aber wir redeten nicht mehr darüber.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke