Ulrike Voss, wie Gewitter

Leseprobe


aus: Kapitel 2, Anna

… Im Flugzeug tat ich, als ob ich schliefe, und ignorierte Gesprächsansätze von Beate. Ich ließ die Nacht vor mir ablaufen. Als aufgeräumt war, hatte Charlotte mich gefragt, ob ich noch auf einen Wein mit zu ihr komme, sie habe selbstverständlich die besten Jahrgänge der Anbaugebiete da, die ihre Firma im Programm hatte. Obwohl mir klar war, dass »auf einen Wein mitkommen« bedeutete, mit ihr ins Bett zu gehen, begleitete ich sie ohne eine Sekunde des Zögerns.

 

Fragte ich mich, als ich die nächsten zwanzig Minuten neben ihr herging, so etwas wie: Hoffentlich erfährt Beate nichts davon? Dachte ich überhaupt an Beate? Charlotte erzählte auf dem Weg beiläufig, dass sie liiert sei, aber nicht mit der Frau zusammenwohne, sie brauche ihre Freiheit.

 

Eine elegant eingerichtete kleine Wohnung. Auf einem Tisch an einem grünen Sofa standen zwei Gläser, Drucke von Paul Klee und anderen bekannten Malern sowie einige Originale hingen an den Wänden, die mir nichts sagten. Beate hätte gelästert und von sogenannter Selbstbefreiungs-Malgruppen-Frauenkunst geredet. Meine Erregung war abgekühlt. Wir ließen uns auf dem Sofa nieder, sie goss die Gläser randvoll – aus der Küche hatte sie einen bereits geöffneten Rotwein in einer Karaffe geholt.

 

»Der Wein braucht Luft«, sagte sie, »und da ich annahm, ich trinke nach der Veranstaltung noch ein Glas, habe ich ihn geöffnet, bevor ich ging.«

 

Ich dachte, während sie eingoss, darüber nach, ob zwei Gläser auf dem Tisch standen, weil sie ihre Freundin nach der Veranstaltung noch hatte anrufen und zu sich einladen wollen, oder ob sie verschiedene Weine zu trinken vorhatte und die aus verschiedenen Gläsern trinken würde, wie eben bei der Verköstigung.

 

Sie zündete sich eine Zigarette an. »Möchtest du auch?«, fragte sie, ich bejahte, sie gab mir Feuer. Ich sog den Rauch tief ein, Schwindel durchflutete mich. Charlotte erklärte, sie rauche nicht viel, denn sie lebe gesund. Aber zum Lebensgenuss gehöre es, manchmal zu rauchen. Sie würde nicht jeden Tag rauchen und niemals mehr als sechs Zigaretten am Tag.

 

»Sechs ist eine schöne Zahl!«, sagte sie, setzte sich neben mich aufs Sofa und sah mich von der Seite an, ich sah sie an, sah ihren heißen Blick, ihr verliebtes Lächeln, sie rückte näher, fast unmerklich, ich vergaß die Wohnung, vergaß mein Nachdenken über zwei Weingläser, ich wandte den Blick ab und zu ihren langen Armen, die Ärmel des schicken schwarzgrau gestreiften Auftrittshemdes hatte sie nach oben gekrempelt, ich folgte zwei parallelen hervorspringenden Adern, bis ich bei den Händen ankam, da nahm sie mir das Weinglas aus der Hand und sagte: »Ich werde dich jetzt verführen.« Sie öffnete mir langsam das Hemd. »Ich möchte deine schönen Brüste bewundern«, sie küsste mich zwischen die Schlüsselbeine, und die Hitze flammte wieder auf. »Ich folge deiner Schönheitsspur«, sagte sie – das klingt reichlich kitschig, meint sie damit meine Muttermale?, fragte ich mich jetzt und das Denken ging wieder los, dann zog sie mir das Unterhemd nach unten, dass meine Brüste bloßlagen, und mir schien, sie machten sich selbstständig, schwollen ihr entgegen. Zarte und harte, zwischen Bissen und Küssen schwankende Liebkosungen folgten, sie musste eine Künstlerin in Sachen Berührung sein, doch das dachte ich natürlich erst danach; währenddessen schoss mir die Hitze aus den Nippeln zwischen die Schenkel, meine Zweifel erloschen.

 

Nach einer Ewigkeit hielt sie inne, sah mich an, hielt mir das Weinglas an die Lippen und sagte: »Trink!« Ich trank unter ihrem anbetenden Blick. Sie stellte das Weinglas ab und nahm selbst einen Schluck. »Und nun öffnest du dich ganz für mich!« Sie bewegte sich zurück zu den Brüsten, zwickte und küsste, dass mir Schmerz und Lust durch den Körper jagten. Ich streckte mich ihr entgegen, gierig, sie öffnete den Reißverschluss, rollte mir langsam die Jeans nach unten und machte heiße Bemerkungen, ich half ihr, ich wollte sie, jetzt sofort! […]

 

Ich sah zu Beate hinüber. Sie döste inzwischen auch. Beate! Sie sah schön aus im Profil. Ihr Haar trug sie jetzt kürzer als früher, es wirkte schwarz, ihr Kopf lag etwas auf der Seite von mir abgewandt, sie atmete ruhig. Ich drehte mich weg von ihr, sah aus dem Fenster. Unter uns Blau und wenige Wolken. Rechts im dunstigen Blau die Andeutung einer Küste, war es die afrikanische? Würden wir bald ankommen? Im Kopf hörte ich das Lied, das bei Charlotte lief, als ich das erste Mal gekommen war. Die Sängerin hatte eine berauschend herbe Stimme, und den Refrain mit dem Wort »Gewitter« sang ein Countertenor. Es machte mir eine Gänsehaut, auch hier, im Flugzeug. Der Text war seltsam, schien mir überhaupt nicht zu einem ersten Mal zu passen, aber den Klang konnte ich nicht vergessen.

 

Beate wachte auf, beugte sich über mich und sah aus dem Fenster. Dabei sagte sie: »Weißt du noch, wir haben bei Gewitter das erste Mal miteinander geschlafen. Ich habe eben von Sex geträumt und von Gewitter.«

 

Ich errötete. Wieso träumte sie ausgerechnet jetzt von Gewitter? Hatte ich etwa in meinem erregenden Halbtraum den Refrain so deutlich gehört, dass ich mitgesungen hatte, und die Worte waren in ihren Traum gedrungen? Die Anschnallzeichen leuchteten auf. Wie üblich legte Beate bei der Landung ihre Hand auf meine …