Sandra Wöhe: Die indonesischen Schwestern

Leseprobe


Es roch nach Kleister. Das Baby schrie. „Ein Mädchen!“, rief Phyllis und fiel beinahe über ihren Koffer. Vor Stunden hatte sie ihn neben dem Tapeziertisch abgestellt. Sie hatte eine Fahrt zu ihrem Bruder geplant, den seine indonesische Firma zu einem Kongress nach Deutschland geschickt hatte. Sie wollte Felix unbedingt treffen. Endlich wieder malaiisch reden. Wann sie ihren Bruder das nächste Mal sehen würde, gab kein Orakel der Welt preis. Vielleicht nie mehr. Vielleicht auch bald. Je nachdem, ob der Vater ihr verzeihen würde, dass sie nicht nach Indonesien zurückgekehrt war.

 

Das Neugeborene schrie jämmerlich. Die Hebamme gab es ihr, eingewickelt in ein weiches Tuch. Bläuliche, knittrige Haut, blut- und fettverschmiert – das Mädchen schrie und zappelte wild. Phyllis konnte es nicht fassen, ihre Enkeltochter in den Armen zu halten. Sie überlegte, ob ihr Herz vor Glück springen oder weinen sollte.

 

„Was für ein wunderschönes Mädchen“, sagte sie und streichelte über die kleine, gerunzelte Stirn.

„Zeig’ sie mir“, bat ihre Tochter, der die rabenschwarzen Haare im Gesicht klebten.

„Wie schön sie ist“, sagte Yasmin. Die Wöchnerin setzte sich im Bett auf und lehnte sich an die Wand, von der die Tapete noch in Fetzen hing.

„Sie ist so leicht“, sagte sie, als ihre Mutter ihr das Baby in die Arme legte. Plötzlich gefror ihr das Lächeln im Gesicht. Yasmin krümmte sich vor Schmerzen.

„Die Plazenta kütt“, sagte die Hebamme gelassen und nahm ihr das Kind aus dem Arm. „Ich wasch et dann schomma.“

„Halten Sie ein, bitte“, bat Phyllis. „Ich würde gerne nachschauen, ob die Kleine auch gesund ist.“

„Das muss doch der Doktor“, entgegnete die Hebamme. „Der kütt schon noch.“

„Vier Augen sehen mehr“, beharrte die frisch gebackene Großmutter und nahm ihr das Kind ab. Die Hebamme wurde noch bleicher als sie schon war.

 

Wahrscheinlich hat sie zu lange in heißer Milch gebadet, dachte Phyllis gehässig. Ihr war die Blässe längst aufgefallen. Immerhin hatte die Hebamme eine Mama Biang-Tasche dabei und benutzte sie auch. Spott, Zweifel und gleichzeitiges Vertrauen in die Künste der Hebamme rumorten in Phyllis, ohne dass sie wusste, was ihr missfiel.

Nicht einmal der Name der Frau interessierte sie. Die Hebamme war ihr einfach zu jung, knapp über dreißig, schätzte Phyllis. Eine gute Geburtshelferin musste aber das vierzigste Lebensjahr überschritten haben. Die Hebammenausbildung brauchte schließlich ihre Zeit. Das war in Deutschland sicher auch so. Phyllis wischte ihre Enkelin mit dem Wickeltuch trocken. Dann steckte sie es in eine Schublade der Kommode, die mitten im Raum unter einer Plastikfolie stand.

 

Die Hebamme beobachtete sie ziemlich entsetzt. Wusste sie nicht, dass man aus dem Wickeltuch wichtige Heilmittel bereiten konnte?

Phyllis, die mit indonesischen Naturvorstellungen aufgewachsen war, hatte keine Lust auf eine Diskussion über westliche Krankheitskonzepte.

 

Seit drei Jahren lebte sie nun in diesem Dorf nahe an der holländischen Grenze. Die Einheimischen waren nett, aber verstehen konnte Phyllis sie noch nicht. Deren Denken war so anders. Absurd. Wie ihr Medizinsystem.

 

Sie zählte die Zehen des Babys, zog sie dabei auseinander und schaute nach, wie weit die Haut dazwischen reichte.

 

„Keine Schwimmhäute“, murmelte Phyllis. „Wasserscheu wird unsere Kleine sein. Zwei Beinchen hat sie“.

 

Vorsichtig massierte Phyllis den Bauch, wie sie es von ihrer indonesischenen Baboe gelernt hatte. Das Baby wurde ruhig. Im Geist dankte Phyllis ihrem alten Kindermädchen. Dessen Tochter hätte sich um das Neugeborene gekümmert, wäre das Leben geradlinig verlaufen.

 

Aber das Schicksal hatte sie nach Deutschland verschlagen, ohne die Menschen, die zu ihr gehörten, all die Kindermädchen, Köchinnen und Chauffeure, welche die Familie schon über Generationen begleitet hatten. Hier wechselte man die Haushaltshilfen wie Unterhosen und verwehrte ihnen auch noch, sich zur Familie zu zählen.

 

Hatte die Kleine gerade gelächelt? Phyllis wusste, dass ein Neugeborenes noch nicht lachen kann. Trotzdem meinte sie, ihre Enkeltochter würde ein freundliches Kind mit gutem Charakter werden. Und wie es sich gehörte für eine kleine Indo, war sie bildschön. Sie stutzte.

„Aber was ist das denn?“

„Was, Mami?“, fragte Yasmin. Ihr brauner Teint wurde heller. Blass wäre sie früher genannt worden, dabei war sie dunkler als die meisten Menschen hierzulande im Hochsommer. „Ist sie krank?“

 

Mühsam setzte sie sich auf, sackte gleich wieder zusammen. Wenn unser Haus bombardiert würde, dann käme ich nicht raus, dachte sie und wunderte sich im nächsten Moment über den Gedanken. Als die Japaner Indonesien angriffen, im Zweiten Weltkrieg, war ich noch nicht einmal geplant. Vielleicht verändert das Neugeborene mein Leben, wie eine Bombe, die vom Himmel fällt.

 

„Gritta“, sagte Phyllis zu ihrer jüngsten Tochter, „pass mal eben auf die Kleine auf. So geht das nicht! Das bringt Unglück.“

 

Yasmin schaute ihrer Mutter nach, die aus dem Zimmer lief. Auf ihre kräftigen Beine wäre jeder Sumotori neidisch, dachte sie.

 

Mit einer Schere in der Hand kehrte Phyllis völlig atemlos zurück. Hastig schnitt sie der Neugeborenen die Haare.

 

„Was ist denn nun, Mami?“, quengelte Yasmin.

„Iss dein Ei, Schwester“, sagte Gritta genervt und reichte es ihr. „Mami spinnt mal wieder. Sie schneidet deinem Kind die Haare.“

„Wie, bitte?“ Phyllis warf ihrer Tochter einen Blick zu. Die zuckte zusammen. „Du weißt doch, Unordnung bringt Unglück. Mehr davon können wir nicht gebrauchen. Und wenn die Haare bei einem Neugeborenen ungleich lang sind, dann bedeutet das Chaos.“

 

„Ach, Mami“, begehrte die Vierzehnjährige auf. „Niemand hier in diesem Kaff glaubt an so etwas. Keiner hält sich Glückstauben. Und wir haben unsere aufgegessen!“

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke