Die Tauchglocke in der Suppe, von Silke Andrea Schuemmer

Ich ahnte, dass es mich gepackt hatte, als der Pürierstab ein hässliches kreischendes Geräusch von sich gab. Da ich am Schreibtisch schon länger zu nichts zu gebrauchen war, hatte ich beschlossen, den Lockdown für etwas Hausfrauliches zu nutzen und einen großen Topf Suppe vorzukochen. Nachdem ich etwa drei Kilo Süßkartoffeln und Lauch geschnippelt, angebraten und mit Weißwein aufgekocht hatte, füllte ich Lorbeerblätter in ein metallenes Tee-Ei und warf es in die blubbernde Suppe. Und während ich noch darüber nachdachte, dass dieses Tee-Ei mit seiner Kette und dem Haken jetzt wie eine Tauchglocke durch das inzwischen weiche Gemüse waberte, versenkte ich den Pürierstab in der Flüssigkeit und schaltete ihn an. Fast augenblicklich gab es dieses Geräusch, das mir klarmachte: Erstens habe ich gerade einen wirklich guten Pürierstab geschrottet, zweitens schwimmen in meinem Riesentopf Suppe nun winzig kleine Metallteilchen, weswegen ich sie wegschütten muss, und drittens ist es nun offiziell:

 

Diese Corona-Situation macht mich definitiv nicht intelligenter.

Leider. Ich würde gern sagen, dass ich ohne Ablenkung von Freunden, Shopping, Reisen, Tanzen und fast allem, was Spaß macht, umso kreativer, geläuterter, ja vielleicht sogar weiser aus dem Lockdown hervorschreiten werde, aber die bittere Wahrheit ist: nö. Ich war nie schusseliger, die Corona-Demenz hat mich gepackt. Ich hatte es schon geahnt, als ich mich einige Tage vor dem Suppen-Debakel im Hausflur aussperrte, weil die DHL-Botin ein Paket brachte und ich dann immer vor meiner Haustür stehe, weil drinnen die beiden Kater

 

drängeln. Da stand ich also auf Socken, ohne Handy, ohne Schlüssel und musste mir bei meiner Nachbarin ein paar Schuhe leihen, um so schnell wie möglich in die Wohnung meines Mannes rüberzulaufen (26 Jahre zusammen, elf Jahre verheiratet, aber nie zusammenwohnend, und hey, it‘s not a bug, it‘s a feature!) und seinen Schlüssel zu holen, denn drin in meiner Wohnung stand eine Pfanne mit heißem Öl auf dem Herd, weil ich wiedermal mit irgendwas Hausfraulichem prokrastinierte. Dass ich ebenfalls neulich eine Abrechnung unsinnig gelesen und ebenso unsinnig beantwortet hatte und zwei Briefe in den falschen Umschlägen gelandet waren (so dass mein Vermieter nun weiß, dass ich gerade an einem Gedichtzyklus arbeite, und die Jury eines Lyrikwettbewerbs sich wundert, wieso ich die Kosten für den Winterräumdienst anzweifle) - geschenkt.

 

Die lange Abwesenheit von echten Erlebnissen, echten Begegnungen, die echte Sinne ansprechen, also alles das, was Netflix nicht bieten kann, hat mein Gehirn offensichtlich auf Notstrombetrieb gestellt. Und nein, rausgehen hilft da nicht! Der Nächste, der mir einen Spaziergang vorschlägt, riskiert einen Schreikrampf. Ich bin kein Hund, ich möchte nicht ständig Gassi gehen, ich habe Spaziergänge schon vor Corona gehasst, und jetzt, wo noch nicht mal ein nettes Café auf der Strecke wartet, finde ich sie indiskutabel.

 

Nicht nur private Amusements, auch meine Nebenjobs als Rednerin fallen weg. Die Hochzeitspaare trauen sich nicht, ihre Feier zu planen, und auch festliche Beerdigungen gibt es schon seit vielen Wochen nicht.

 

Mich zermürben die immer wieder geänderten Pläne, gecancelten Reisen, verschobenen Treffen mit Freunden, gestrichenen Besuche bei der Familie. Ich bin ja vieles, spontan bin ich nicht. Ich buche elf Monate im Voraus einen Urlaub und weiß spätestens im August, wie ich Weihnachten feiern werde. Diese ständigen Änderungen von Verabredungen, Orga und Vorfreude machen mich fertig. Auf nichts ist mehr Verlass. Ich hasse es, wenn Dinge in der Schwebe hängen, und ich hasse es, wenn ich keinen Einfluss darauf habe, wie etwas läuft. Geduld ist nicht meine Stärke, Optimismus auch nicht. Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben so müde war. Mental und faktisch, ich nähere mich meinen Katern an, die ja 16 Stunden am Tag schlafen. Die Nächte sind klebrig und weben sich um mich herum wie dichte Kokons. Morgens kämpfe ich mich heraus und schleife die Reste der pappigen Hülle mit Traumresten durch den Tag.

 

Darf man jammern, wenn man megaprivilegiert keine Kinder im Homeschooling zu Hause betreut und mit einem Ehemann, den man auch noch nach dreizehn Monaten Corona gern um sich hat, in zwei Wohnungen lebt? Ich finde schon, in den ersten Wochen vielleicht nicht, aber inzwischen hat wirklich jeder das Recht, genervt zu sein, und sei es nur von dieser vorher unvorstellbaren Monothematik. Corona von morgens bis abends. Keine wirkliche Freizeit und vor allem auch kein Job und damit kein Einkommen.

 

Und dann denkt sich wieder jemand eine bizarre KünstlerInnen-Förderung aus, mit klein gedruckten Bedingungen, so dass die Hälfte der Kunstschaffenden durchs Raster rauschen. Die Filme, die wir jetzt alle sehen, die Bücher, die wir jetzt lesen, sind von Menschen produziert worden, die zur gleichen Zeit systematisch pleitegehen.

 

Wir sind nicht systemrelevant.

 

 

 

Das ist für mich die Hauptaussage aus über einem Jahr Corona.

 

Nicht. Systemrelevant.

 

Klar war mir das vorher schon, aber ich fand es nicht so abwertend. Eine gewisse Nutzlosigkeit bedeutet ja auch Freiheit. Ich bin schon ganz froh, dass ich keine Staaten regiere oder Brücken baue oder Leben rette. In der Schule hatten wir mindestens dreimal die Fabel von der Grille und der Ameise, und die Ameise war mir immer suspekt in ihrer Spaßlosigkeit. Ich fand und finde, dass die Grille mit ihrem Musizieren auch einen wichtigen Beitrag leistet. Auch Grillen sind systemrelevant, denn ein Winter ist lang, und man kann nicht immer nur Vorräte zählen.

 

Aber es gibt etwas, das völlig unangetastet bleibt von all dem, von Kübeln Suppe mit Metallteilen, falschen Abrechnungen, erschöpfenden Zoom-Gesprächen und dem Gefühl, dass die Welt draußen verschwindet, sich einfach auflöst wie Bodennebel, wie der Gedanke, den ich gerade noch fassen wollte, und das sind Gedichte.

 

Die gibt es glücklicherweise immer, die sind nicht saisonabhängig, und sie sind genauso tief, berührend und beglückend, ob es Corona gibt oder nicht.

 

Es ist paradox, dass etwas, das so abgehoben ist wie Gedichte, gleichzeitig für so viel Bodenhaftung sorgt, als wäre die Situation mit Corona etwas, das mit verminderter Schwerkraft stattfindet und mich immer weiter loslöst und treiben lässt, aber nicht auf die gute Art, sondern mich hinaussaugt ins Vakuum, wo das Atmen zunehmend schwerer fällt und die Stille mit jedem Schnaufen lauter in den Ohren dröhnt. Ausgerechnet Gedichte, etwas, auf das man angeblich als Allererstes verzichten kann, hat diese Gravitationskraft, die mich wieder auf den Boden bringt.

 

Ein bisschen Trotz ist schon auch dabei, zu oft habe ich in den letzten Monaten gehört, dass das, was ich tue, im Prinzip überflüssig ist, aber wenn eine Zeile gelingt und der Klang noch einen Moment in der Luft schwebt (ich murmel beim Gedichteschreiben die ganze Zeit vor mich hin), dann habe ich das Gefühl, endlich wieder an etwas Substantiellem teilzuhaben, als würden Muskeln und Gehirnwindungen, die wegen Corona und der Profanität des Alltags zwischen Bananenbrot backen und dem ewigen ewigen Spazierengehen verkümmert sind, sich endlich wieder anspannen. Dann fühle ich wieder das, was mein Leben eigentlich ausmacht.

 

Da gibt es doch diese Werbung, in der DemenzpatientInnen Musik aus ihrer Vergangenheit vorgespielt wird, und die, die eben noch graugesichtig und leblos dagesessen haben, erinnern sich plötzlich und füllen sich mit Leben – genau das passiert mit Gedichten.

 

Und ja, das ist systemrelevant, für mein System sind Gedichte absolut relevant, und ich wäre sehr beglückt, wenn ich für die Gedichte relevant wäre. Wie kann etwas verzichtbar sein, das sich so wichtig anfühlt, das mich so beschäftigt, so auflädt, so fordert, so verändert, so weich macht und mir so spiegelt, wer ich bin? Alles ist vage, da draußen ist nichts sicher, niemand weiß, wie es weitergeht.

 

In so einer Situation sind Gedichte Anker.

 

Und wer glaubt, ein Schiff komme ohne aus, hat einfach keine Ahnung vom Sog der Strömung.

 

 

 

Silke Andrea Schuemmer

 

März 2021

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