Am 30.3.2021 trat ich morgens auf die Straße und rief mir selbst zu, mutig zu sein. Am Himmel stand ein lächelnder Tagmond, der fast noch voll war. Die Farbe des Himmels würde sich bald zu einem cremigen Blaubeerblau verdichten, noch war sie eher babyblau.
Ich dachte an meine Kollegin Djuna Barnes, die sich hatte künstlich ernähren lassen, um als New Yorker Journalistin die Qualen nachzuvollziehen, mit denen ein Hungerstreik gewaltsam beendet wurde. Der Gedanke an sie gab mir Kraft.
Ich war überpünktlich im gut organisierten Saarbrücker Impfzentrum, dessen Hallen eine Buchmesse hätten aufnehmen können. Um halb acht betrat ich die erste Schleuse, fünf Minuten nach acht Uhr trat ich durch die Check-out-Schleuse und in meinem gelben Impfbuch klebte ein neuer Aufkleber: AstraZeneca.
Als freiberufliche Schriftstellerin mit Geburtsjahr 1967 wäre ich noch lange nicht an der Reihe gewesen, geimpft zu werden, aber ich bin auch Teilzeit-Erzieherin in einer Grundschule, und als solche erhielt ich die Priorisierung.
Täglich zur Arbeit zu kommen und genau zu wissen, dass der Beruf nicht zu leisten ist, ohne mit zahlreichen Menschen Kontakt zu haben, die, je jünger sie sind, desto weniger in der Lage sind, Abstände oder Hygieneregeln einzuhalten, erfordert Mut.
Ein Jahr lang mutig und streng zu sein, kann ermüden.
Zu den Kontakten am Arbeitsplatz kommen die in den Bussen und Bahnen dazu.
Fast die ganze Zeit seit Beginn der Pandemie waren wir im Dienst, in der Notbetreuung, für die Kinder, die den Wechselunterricht besuchten, für die Kinder besonders gefährdeter Eltern, also von anderen Erzieherinnen, von Krankenschwestern, Ärztinnen, Altenpflegern, Reinigungskräften usw. Manchmal betreuten wir nur ein Kind, manchmal über 30 pro Gruppe. Dann waren die Gruppen fast so groß wie zu normalen Zeiten, die Verantwortung drückend.
Die Kinder sollten Abstand voneinander halten und von uns Erwachsenen auch. Und beim Mittagessen? Und wenn sich ein Kind verletzt? Wenn Streitende zu trennen sind? Und sollen wir jeden Ball, jeden Stift, jede Spielfigur desinfizieren? Wer sagt uns, wo und wie lange sich das Virus hält? Wieviel Zeit fällt allein für das Händewaschen weg? Schaffen wir es so, in vier Gruppen zu essen, die sich nicht begegnen dürfen? Haben wir im Essraum genug Platz für alle, wenn wir die Abstände einhalten müssen und keine Masken tragen können?
Trotz großer Strenge ist es nicht möglich, alle Regeln so einzuhalten, wie die Leute in den Home-Offices sich das vorstellen. Wir lächeln grimmig und kämpfen uns irgendwie durch, manche ducken sich weg, der Zusammenhalt unter den anderen wächst.
Jetzt, da ich geimpft worden bin, fällt nach einem Jahr Pandemie wenigstens der auf mich selbst bezogene Teil des Unbehagens weg. Überträgerin könnte ich immer noch sein, aber eine Covid-Station im Krankenhaus werde ich nun wohl nicht mehr von innen sehen müssen.
Nun ja, genau zwölf Stunden nach der Impfung öffnete sich der Brief, den der Briefträger AstraZeneca übergeben hatte. Ich fing an zu frieren, zu schwitzen, ein wenig zu zittern. Am ganzen Körper wurde ich durchgekitzelt, das war fast angenehm.
Ich ging ins Bett, schlief, wachte zwei Stunden später mit Fieber auf und am folgenden Tag sah ich dem Fieberthermometer dabei zu, wie es die Zahlen rückwärts rechnete, bis ich abends wieder ganz normal temperiert war. Noch ein paar unangenehme Gliederschmerzen, ein wenig Übelkeit, am dritten Tag fühlte ich mich wieder wie zuvor.
Ach ja, und noch eines: Am selben Tag, als mir AstraZeneca verimpft wurde, setzte das Saarland alle Impfungen mit diesem Stoff für Frauen unter 55 aus, weil – und das wusste ich ja schon, als ich unterm blauen Himmelsschild auf die Straße trat, einige Frauen an der zu heftigen Reaktion auf diesen Impfstoff gestorben waren. Noch am Morgen meiner Impfung hatte ich von einer Frau in Euskirchen erfahren, die nun nicht mehr lebt.
Und trotzdem hätte das Impfangebot für mich wie für alle Erzieherinnen, Krankenschwestern, Reinigungskräfte, Busfahrer, Verkäuferinnen, Pflegekräfte und so weiter, also alle Menschen, die berufsbedingt viel mehr Kontakte haben als sie sollten, viele Monate früher kommen müssen.
Sonja Ruf, 7. April 2021
Dieses Gedicht hing für einen Monat (bis 14.3.2021) im Fenster der Kulturkirche Bremerhaven. Foto: Silke Mohrhoff.
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