Regina Nössler: Auf engstem Raum

Leseprobe


Der Tag im Laden konnte beginnen. Fehlten nur noch die Zeitungen. »Ich hole jetzt die Kiste rein«, sagte Heinz Wuttke. »Das Geld für die Bank ist schon fertig.«

 

Keine Reaktion von Helga. Sie sah ihn nicht einmal an. Ihm lag die Frage auf den Lippen, ob sie nun den ganzen Tag zu schweigen gedenke, ob ihre Laune so bleibe, auch wenn Oliver, Marie und Vera kamen, aber es erschien ihm besser, sie herunterzuschlucken, um Helga nicht zu reizen. Kurz darauf tauchte seine Fantasie wieder an die Oberfläche. Helga grob bei den Armen zu packen. Sie zu schütteln. Die Worte aus ihr herauszuschütteln. Ihr blaue Flecke zuzufügen. Aber die Fantasie verflog so schnell, wie sie gekommen war.

 

Er schloss die Ladentür wieder auf, trat nach draußen und warf einen Blick über die Straße. Das tat er jeden Morgen und empfand dabei immer eine Mischung aus Zufriedenheit und Stolz. Es war sein Viertel. Seine Straße. Der Müllmann, wie seine Studenten ihn nannten, war heute aber schon früh unterwegs. Um viertel nach acht. Wie immer klaubte er Abfall vom Gehweg und warf ihn in die orangefarbenen Papierkörbe.

 

»Morgen«, sagte Heinz Wuttke und nickte ihm zu. Alle im Laden amüsierten sich über ihn.

 

Dann öffnete er das alte Fahrradschloss, mit dem die Zeitungskiste an einem Metallring an der äußeren Hauswand befestigt war, und wollte die Kiste schwungvoll in den Laden schieben, wie ein kräftiger, junger Mann, in dem die Energie pulsierte.

 

Doch zu seiner Verwunderung ließ die Kiste sich kaum bewegen. Er musste sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmen.

 

»Mensch, ist die Kiste heute schwer!«, rief er ins Ladeninnere. Seit seinem Sturz von der Leiter tat ihm der Arm weh. So sehr, dass er manchmal die Zähne zusammenbeißen musste. Aber er sagte es niemandem. Nicht einmal Helga.

 

»Soll ich dir helfen?«, hörte er seine Frau.

 

Es war das Zweite, das sie heute zu ihm sagte. Nach der Frage »Bist du fertig?«, bevor sie das Frühstücksgeschirr abgeräumt hatte. Sie stand mit den Händen in die Hüften gestemmt mitten im Laden und sah ihm zu.

 

»Nein, nein, lass mal«, sagte er. »Das ist viel zu schwer für dich.«

 

Draußen blieb eine alte Frau vor der Ladentür stehen und sagte: »Ich hätte gerne eine BZ. Haben Sie schon geöffnet?«

 

»Nein, noch nicht«, antwortete Heinz Wuttke. »Ich muss die Zeitungen erst noch auspacken. Die sind hier drin.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Kiste. »Das muss ja alles erst vorbereitet werden, bevor Sie Ihre Zeitung kaufen können. In einer halben Stunde kriegen Sie Ihre BZ

 

»Das dauert mir zu lange«, sagte die Frau und ging weiter.

 

»Die Leute sind so ungeduldig«, murmelte Heinz Wuttke. »Was hat die denn wohl für wichtige Termine, dass sie nicht warten kann?« Zentimeterweise schob er die Kiste in den Laden. Verdammte Zeitungen, brachten sowieso kaum etwas ein. Dann hatte er es endlich geschafft und die Kiste stand vor der Ladentheke. Er öffnete die Kiste. In der Kiste lagen nicht die schweren verschnürten Pakete mit Tageszeitungen und Zeitschriften, die er erwartet hatte. In der Kiste lag nicht ein einziges Blatt bedrucktes Papier. Heinz Wuttke fragte sich einen Moment, ob er in Wirklichkeit noch in seinem Bett lag, schlief und träumte. Dabei träumte er nie. »Jeder Mensch träumt«, sagte Kathrin Kleinschmidt immer, »auch Sie.«

 

Dann fragte er sich, ob sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte. Oder sie alle miteinander. Seine Studenten. Doch was sollte das für ein Scherz sein?

 

»Helga, komm nach vorne! Sofort!«

 

»Was brüllst du denn hier so rum?«

 

»Hier«, sagte er und zeigte darauf. »Hier!«

 

Helga erstarrte. Dann schlug sie die Hand vor den Mund. Sie standen beide eine Weile vor der geöffneten Zeitungskiste, eine Minute lang, vielleicht auch fünf Minuten oder nur wenige Sekunden. Heinz Wuttke hatte sein Zeitgefühl verloren.

 

»Helga, er ist tot.«

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke