Yoko Tawada: Das nackte Auge

Leseprobe


Immer, wenn Jörg mich ansprach, kam aus meinem Mund dieselbe Frage, warum er mich hierher gebracht habe. Jörg flüchtete sich in Adjektive und sagte mir: “Wir besuchen ein gutes Warenhaus, weißt du, ein gutes”, “Es ist ein günstiges Restaurant”, oder “wir kaufen in einem teuren Schuhladen ein”.

 

Auf dem Schreibtisch lag eine lange, schmale Schere. An ihrer Schneide waren zwei eckige Männlein zu sehen, die Hand in Hand dastanden. Bevor ein Mann, der wahrscheinlich Jörg hieß, sich nachts auf meinen Körper legte, hielt ich bereits die Schere an meine Brust, zusammengeklappt und mit der Spitze in Richtung des Himmels. In der Dunkelheit konnte der Mann die Schere nicht sehen. Er sprang mit einem Schwung auf mich, und die Schere durchstach sein Fleisch. Ich spürte, wie die Messer zwischen seinen Rippen nach innen ragten. Vielleicht schaute ihre Spitze schon aus dem Rücken heraus. Seine Augen schwollen an und platzten. Dann fiel der schwere Körper kraftlos neben mich.

 

Es schien, als würde in dem Raum eine Weile Frieden herrschen. Der Welt den Frieden: die Arbeit war erledigt worden. Auf einmal merkte ich, dass meine Hände sich klebrig anfühlten. Ich stellte überrascht fest: in einer extrem lichtarmen Umgebung konnte menschliches Blut schwarz aussehen.

 

Das Gesicht eines Menschen sah seltsam aus, wenn man es aus zu großer Nähe betrachtete. Die Augen und die Augenbrauen wuchsen zusammen, hinter ihnen bildete sich ein dunkler Hohlraum, die Form der Nase verschwand, die Nasenlöcher schwärzten sich, während die emaillierte Oberfläche der Zähne eine kannibalische Helligkeit annahm.

 

Das Fleisch meiner Pobacken schmerzte, es mussten Jörgs Fingernägel gewesen sein, die noch in meinem Fleisch brannten. Sein schwerer Körper, den ich nicht einmal ein bisschen zur Seite schieben konnte, zerdrückte mich. Ich streckte meinen Zeigefinger und steckte ihn in sein Auge. Er schrie kurz auf, stand auf und ging schimpfend ins Badezimmer. Ich folgte ihm. Er untersuchte sein rotes Auge im Spiegel. Ich nahm den eisernen Kerzenständer in die Hand und schlug ihn auf seinen Hinterkopf. Er kniete sich langsam nieder, wie ein Akkordeon, das sich zusammenzog, und lag zum Schluss quer auf dem Boden.

 

Ich pustete in sein Ohr, um ihn wie eine Gummipuppe aufzublasen. Kaum war er aufgestanden, gab er mir einen Fußtritt gegen die Brust. Ich fiel rückwärts, schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und brach zusammen. Jörg griff nach meinem Fußgelenk, hob es einfach hoch und hielt mich kopfüber. Dann öffnete er mit den Fingern meine Schamlippen und steckte alles hinein, was er gerade fand: die Zahnbürste, den Rasierapparat, das Fläschchen mit den Augentropfen und den Kamm. Nur die Nagelschere ließ er aus der Hand fallen. Ich schnappte sie und stach damit in seinen Spann.

 

Ich wurde bald des sexuellen Verkehrs überdrüssig, weil man bei der Sache immer zu zweit war und keine neue Szene zu sehen bekam. Aus dem Fenster beobachtete ich ab und zu fremde Menschen, die mit seriösem Gesichtsausdruck aus dem Gebäude traten und irgendwohin eilten. “Hast du gar keinen Freund? Hat kein einziger Mensch Interesse an dir?” fragte ich Jörg, woraufhin er mich überrascht ansah. Schon am nächsten Tag brachte er einen Mann in seinem Alter mit nach Hause. Als ich auf Russisch zu ihm sagte, dass ich mich freue, ihn kennenzulernen, antwortete er verlegen auf Englisch, dass er leider kein Vietnamesisch verstehe.

 

Jörg lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Zu mir sagte er, in dieser Stadt würde kaum jemand russisch sprechen. Das enttäuschte mich genau so wie damals, als ich erfuhr, dass es hier keinen internationalen Flughafen gab. “Das ist Mark”, stellte Jörg mir den Mann erneut vor und begann, mit ihm Dosenbier zu trinken und zu plaudern.

 

Mark versprach mir, beim nächsten Besuch seine neue Freundin mitzubringen, die aus Moskau stammte. Den Erklärungen zufolge, die Jörg mir später gab, war Mark in seinem Wirtschaftsstudium sehr erfolgreich, hatte aber keine Begabung für Sprachen. Obwohl er schon einmal angefangen habe, Russisch zu lernen, könne er diese Sprache nicht einmal akustisch von anderen Sprachen unterscheiden. Wenn jemand vietnamesisch aussehe, höre er ihn automatisch vietnamesisch sprechen. Gesichter sahen verschieden aus, aber Fremdsprachen waren für ihn in ihrer Unverständlichkeit alle gleich.

 

Die Freundin von Mark hieß “Anna”, aber sie hatte keine Ähnlichkeit mit der Anna aus meinem alten russischen Sprachlehrbuch. Die neue Anna erzählte mir nicht auf Russisch, wie viele Geschwister sie hatte oder wo sie geboren war. Sie fragte mich nicht in dieser Sprache, wie es mir ging oder was ich am kommenden Sonntag machen würde. Sie sprach vielmehr die ganze Zeit nur deutsch. Anna, die kein Russisch mehr sprach, wollte ich lieber Anne nennen, und nicht mehr Anna. Aber was war ich, die gar nichts mehr sprach?

 

Jörg und ich waren mit Mark und Anna in einer Pizzeria verabredet. Frauen und Männer um die zwanzig standen dort herum. Einige warteten auf die “frisch gebackene” Pizza aus der Mikrowelle, andere küssten einander oder rauchten. Es gab einen Spielautomaten, der Bilder von Tomaten in seinen Fenstern zeigte.

 

Mark schenkte mir ab und zu ein charmantes Lächeln, während Anna mich nie anschaute und ins Gespräch mit Jörg versank. Die deutsche Sprache klang so, wie sie aus dem Mund von Anna herauskam, plastisch und bunt. Beim Zuhören hatte ich das Gefühl, durch hügelige Landschaften spazieren zu gehen. Die Pizza schmeckte wie altes Papier mit Tomatengeschmack. Das dunkelrote Getränk mit Kohlensäure schmeckte wie ein Medikament gegen Halsschmerzen. Ich hätte viel lieber frisches Wasser mit grüner Zitrone und Zucker getrunken. Ich verfiel in eine sentimentale Stimmung, vielleicht, weil ich gerade meine Tage hatte. Während wir Pizza klein schnitten und aßen, versank ich in meinen Gedanken über vietnamesische Frühlingsrollen aus rohem Teig und frischen Kräutern, so dass der Speichel in meinem Mund zu fließen begann.

 

Als ich meine Pizza lustlos aufgegessen hatte, hatte ich immer noch nichts zu sagen und saß schweigend und mit krummem Rücken da. Jörg sprach plötzlich russisch, wahrscheinlich aus Mitleid mit mir. Er fragte Anna, ob sie wisse, dass die Verlängerung der Transsibirischen Eisenbahn durch Bochum gefahren sei. Diese Eisenbahnlinie habe Moskau direkt mit Paris verbunden. Annas Gesichtsausdruck hellte sich plötzlich auf: “Ja, ich weiß. Die Schienen verliefen bei den Sieben Planeten, glaube ich.” “Es gab dort ein Kohlebergwerk”, fügte Mark hinzu.

 

“Kennt ihr den amerikanischen Film, in dem ein Junge, dessen Vater ein armer Bergarbeiter ist, das Licht vom Sputnik im nächtlichen Himmel sieht und später Astronaut wird?” “Ich habe noch nie einen amerikanischen Film gesehen”, antwortete ich. Anna warf einen verächtlichen Blick auf mich. “Ich mag Tarkowskij”, fügte ich aus Protest hinzu. Anna lachte. Ab diesem Punkt blieb ihr Geschichtsausdruck glühend freundlich, und zum Schluss lud sie mich sogar zum Eis ein.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke