Rede von Yoko Tawada

Laudatio auf Ulrike Ottinger

Berlinale Kamera am 22.2.2020

 

 

 

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Ich sehe Ulrike Ottinger hinter ihrer Kamera stehen. Vor ihr das tobende Meer, das die japanische Insel Sado vom Kontinent trennt. Der gnadenlose Schneesturm erteilt ihr heftige Ohrfeigen, aber sie weicht kein bisschen ab von ihrem Standpunkt und hält ihre Kamera millimetergenau auf die Naturgewalt. Ich erinnere mich, wie ich mich heimlich ins geheizte Auto geflüchtet habe. 2011 bei den Dreharbeiten für den Film „Unter Schnee“ bewunderte ich die Regisseurin für etwas, was für sie wahrscheinlich selbstverständlich war: Sie begegnete dem Klima sowie den Menschen, die sie filmte, stets körperlich und persönlich. Die Filmemacherin war nicht die einzige Sehende. Sie ist die ganze Zeit von allen Mitwirkenden gesehen worden. Einige Darstellerinnen blickten zuerst skeptisch in die Kameralinse zurück. Bevor sie der Kamera eine Scheibe von ihrer Seele abgeben, wollen sie wissen, was damit passiert. Ottinger gewann schnell ein grundsätzliches Vertrauen bei allen. Als Kinobesucherin vergessen wir oft die Gegenseitigkeit der Blicke, ohne die kein guter Film gedreht werden kann.

 

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Was mir auch auffiel, war, dass sie nie manipuliert. Sie arrangiert sich mit der egoistischen Natur und unberechenbaren Menschen. Die Künstlerin hat ihre klaren Bilder im Kopf, benutzt aber nicht die Darsteller, um sie eins zu eins nachzustellen. Regieanweisungen sind zurückhaltend, das Vertrauen und die Neugierde sind auf beiden Seiten groß. Gigantische Materialien, die durch solche Dreharbeiten entstehen, werden später im Schneideraum zu einer großen Komposition zusammengestellt. Dante schrieb die „Göttliche Komödie“, Balzac die „menschliche Komödie“. Ottingers Filme könnte man als „Komödie der Menschen und der Götter“ bezeichnen.

 

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Die Kamera verändert nicht nur den Blick der Kinobesucher, sondern den der Menschen, die gefilmt werden. Damals im Schneeland holten die Dorfbewohner aus ihrer Scheune einen alten Strohmantel heraus. Das taten sie der berühmten Filmemacherin zuliebe, die aus der fernen Filmstadt Berlin extra angereist war und die Geschichte dieser Provinz zu schätzen wusste. Doch waren sie dann von der hohen Qualität des mittelalterlich anmutenden Produktes selbst überrascht. Der Strohmantel war nicht wasserdicht wie ein Mantel aus Kunststoff, aber alle Wassertropfen wurden von den Strohhalmen fehlerfrei nach unten geleitet, so dass die Feuchtigkeit nie durchsickerte. Außerdem war er warm und atmungsaktiv. In manchen Hinsichten hat die Zivilisation vor der Verbreitung von Plastik ihren Höhepunkt erreicht. Ottingers Filme enthalten ökologische Ideen jenseits von Moral und Ideologie. Vom bösen Plastik ist nie die Rede.

Der Strohmantel war nicht nur funktionell gedacht, sondern auch mythologisch beladen. Man spricht vom magischen Strohmantel „Kakuremino“, den das beflügelte Fabelwesen Tengu besitzt. Wer ihn anzieht, wird unsichtbar.

Kluge Alltagsgegenstände haben ihren mythischen Hintergrund. Anfang der 80er Jahre lud uns der Film „Freak Orlando“ zu einem Kaufhausbesuch ein, in dem Orlanda Zyklopa mythische Schuhe anfertigt. Ihre Produkte wurden nicht verstanden und als Folge verliert sie ihren Arbeitsplatz im Palast des Kapitalismus.

Ottinger selbst hatte bei den Dreharbeiten in Japan wunderschöne Halbstiefel an, die mit Sicherheit aus dem Fell eines mythischen Tiers genäht waren. Wer sie anhat, kann stundenlang in Schnee und Eis laufen. Ich vermute, dass auch bei der Expedition „Chamissos Schatten“ ein Paar magische Stiefel den Fuß der Künstlerin warmgehalten haben.

 

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Für mich ist die Ethnologie eine Form der Poetologie oder umgekehrt. Claude Lévi-Strauss, Michel Leiris, Victor Segalen und viele weiteren Autoren entwickelten durch einen kreativen Umgang mit den Fremden neue Schreibweisen, die moderne Literaturen bereicherten.

 

„Calligrammes“ nannte Guillaume Apollinaire seinen Gedichtband mit der konkreten Poesie, der 1918 erschien. So hieß auch die Buchhandlung in Paris, wo Bücher und Künstler, die bis heute einen großen Einfluss ausüben, zusammenkamen. Eine Kreuzung von zwei Straßen, Ethnologie und Poesie, interessiert mich besonders. Aber es gab viele weitere Straßen, die sich im Paris der 60er Jahre kreuzten, und mitten drin stand eine junge Künstlerin der Sehnsüchte.

 

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Ottingers Filme gehören für mich zu den absoluten Ausnahmen, deren Existenz ich kaum glauben kann. Normalerweise schaue ich mir sehr ungern Filme an, die außereuropäische Kulturen zeigen. Denn es herrscht immer dasselbe Szenario, egal ob es um Kuba, Kenia oder Korea geht. So ein Film zeigt zum Beispiel einen traditionell gekleideten buddhistischen Priester, der mit Smartphone telefoniert. Der Sprecher kommentiert dann, es sei ein krasser Gegensatz zwischen der westlichen Moderne und der einheimischen Tradition. Eigentlich wäre der Kontrast krasser, wenn ein katholischer Priester mit seinem Smartphone telefonieren würde, denn dieser hält sich weiter an den Zölibat fest und das Mobiltelefon ist in China hergestellt.

Es war ein genialer Einfall von Ottinger, den Schnee als Bühnenbild auszuwählen. Unser Blick geht auf das schneeweiße Papier zurück, wo keine Grenzlinien zwischen gestern und heute, Ost und West, Natur und Technik, Märchen und Dokumentarion voreilig gezogen sind. Verwandlungen und Austausch sind zwei der wichtigsten Bewegungen in Ottingers Filmen. In unterschiedlichen Epochen wurden Kulturtechniken eifrig ausgetauscht und dadurch verwandelten sich zeitlich versetzt alle Kulturen. Es gab und gibt natürlich auch Missachtungen, Feindseligkeiten und Kriege zwischen Menschengruppen. Ottingers Filme zeigen die Komplexität der Beziehungen, anstatt alte Feindbilder zu aktivieren oder neue zu erzeugen.

 

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Ich habe jetzt zu viel von Schnee gesprochen. Zum Glück muss man nicht immer in der Kälte stehen. Auch Ottinger sitzt manchmal in einem schön geheizten Raum auf dem Sofa und liest ungemein viele Bücher. Das merkt jeder, der sich einmal mit ihr unterhalten hat. Im Unterschied zu den traditionellen Gelehrten bleibt sie aber nicht in ihrer Bibliothek, sondern bricht zu großen Reisen auf und ist wochenlang unterwegs in der Taiga, einer Wüste oder am Eismeer. Dafür muss ihre Bibliothek in ihren Kopf verlagert werden. Diese Kopfbibliothek möchte ich gern einmal von innen besichtigen.

Ich freue mich auf den neuen Film „Paris. Calligrammes“. Paul Celan, der in den 50er und 60er Jahre in Paris lebte, schrieb in einem Brief: „Ja, Paris muß man sich ebenso erfinden wie alles übrige, sonst besteht es nicht.“ Alle anderen Orte, wo er hätte leben können, Deutschland, Israel oder die Bukowina kamen nicht in Frage. Er wählte Paris aus, selbst wenn er es erfinden musste. Welcher Künstler erfindet aber nicht den Ort, an dem er leben will und gelebt hat? Die Erfindung ist ein Produkt der Erinnerung und diese kommt erst mit Hilfe der Erfindung ans Licht.