Sigrun Casper: Unterbrochene Schienen

Ost-West-Geschichten


Aus der Geschichte "Chagall ist schuld"

[...] In der Hoch-Zeit des kalten Krieges versuchte ich als frisch gescheiterte Schauspielschülerin meinen eigenen Weg zu gehen im östlichen Staat des geteilten Deutschland, der meine Heimat war. Ich wollte hier nicht mehr studieren. Ich lehnte die paramilitärischen Übungen ab. Ein Jahr Schieß- und Marschierübungen reichte mir, da wollte ich nicht noch einmal mitmachen, und wenn es sich hundertmal um Übungen zur Verteidigung, nicht für kriegerische Angriffe handeln sollte.

 

Die unausweichlichen Sprüche und Losungen bläuten uns ein, wir nähmen als Werktätige am Aufbau des Sozialismus teil. In der Deutschen Demokratischen Republik, dem Staatsbetrieb, in dem der Sozialismus hergestellt wurde, sollten sich Arbeiter und Bauern zu Helden der Arbeit formen lassen. Ich fand die Sprüche samt ihren Botschaften doof. Wieso musste eine Gesellschaft, die gerecht und für die Menschen gut ist, ihre Qualitäten mit großen Worten aufblasen, geistlosen obendrein? Hatte es das menschenwürdige System nötig, sprachlichen Unrat über das benachbarte System auszuschütten? Dieses wird sich sowieso eines baldigen Tages als unhaltbar erweisen und sich mit seiner Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen ganz von selbst zugrunde richten, so glaubte ich. Nicht auf die plumpe Tour, mit eigenen Worten, meinem eigenen Gefühl, eigenen, nicht von oben diktierten Taten wollte ich mich für die gerechtere Gesellschaft einsetzen. Auf meine Weise leben, auf meine Weise arbeiten, das wollte ich.

 

Wegen der fremden Länder habe ich mich kurz nach der Exmatrikulation von der Theaterhochschule in Schönefeld beworben. Man versprach mir, meinen Namen auf die Warteliste für Stewardessen zu setzen, und teilte mir die Bedingung mit: Alle Beziehungen zum Westen abbrechen, westliches Territorium weder betreten noch durchfahren. Nein, danke. Die fremden Länder konnte ich mir abschminken. Wegen der entfernten Verwandtschaft zum Schauspielern habe ich mich dann beim Deutschen Fernsehen beworben. Da bin ich gleich wieder draußen gewesen. Denen habe ich wohl nicht nett genug ausgesehen. Außerdem auch hier: Westen ade. Ich habe beim Deutschlandsender in der Nalepastraße angerufen und einen Vorsprechtermin bekommen. Im schalldichten Studio las ich meine vorbereiteten Texte ins Mikrofon. Man war angetan von meiner Rundfunkstimme und wollte mich gleich einstellen, mit sagenhaften achthundert Mark Anfangsgehalt und Aufstiegsmöglichkeiten. Eine Bedingung: Den Westen vergessen. Keine Begegnungen, keine Briefe, keine Berührungen. Hätt ich mir schon vorher denken können. Ich habe die angebotene Bedenkzeit nicht genutzt, Auf Wiedersehen gesagt und das Gegenteil gemeint […]

 

Da es also bei der Lufthansa, beim Fernsehen und beim Rundfunk nicht geklappt hatte, wollte ich es als Verkäuferin in der Deutschen Bücherstube versuchen. Die Eltern der doch nun wirklich zu etwas Besserem taugenden Tochter schlugen die Hände überm Kopf zusammen. Ich fuhr nach Friedrichstraße. Den Weg kannte ich ja. Forsch trat ich in den Laden und fragte die erstbeste

 

meiner sechs zukünftigen Kolleginnen nach der Geschäftsleitung.

 

 

 

Sie war mit einem zarten, blumigen Duft von der Treppe her auf mich zugekommen, die große Dame v. Kamptz, mit großer Brille und großen, leuchtenden Zähnen, sie hat mir ihre große Hand gereicht und nach meinem Wunsch gefragt. Ich würde hier gern arbeiten, habe ich geantwortet. Fräulein v. Kamptz hat mich lange angesehen. Ich bin ihrem Blick nicht ausgewichen. Sie hat amüsiert gelächelt. Dann hat sie gesagt: Wir brauchen niemanden. Ehe mir das Herz in die Kniekehlen gerutscht ist, hat sie weitergesprochen: Aber Sie gefallen mir. Ich nehme Sie. Das hat Fräulein v. Kamptz wörtlich gesagt, so was war möglich damals, ganz ohne Vitamin B.

 

Ein paar Wochen später habe ich angefangen als ungelernte Verkäuferin mit Abitur und zweihundert-

 

zwanzig Mark netto Anfangsgehalt. Ohne ein Verbot, den Westen betreffend, habe ich am 1. Juli 1959 in der Deutschen Bücherstube in Berlin NW 7, Friedrichstraße 113, zu arbeiten angefangen. […]

 

 

 

Wenn man aus dem S-Bahnhof Friedrichstraße links herausging, fand man die Deutsche Bücherstube kurz vor der Kreuzung Oranienburger Straße auf der rechten Seite der Friedrichstraße, nach dem Haus mit der Artistenschule, nur ein paar Minuten von der Weidendammbrücke und dem Berliner Ensemble entfernt. Beide Geschäfte nebeneinander in einem heil gebliebenen Haus bildeten eine Oase aus Gepflegtheit, Kultur und Fantasie in dieser nüchternen, rauen, zum Teil noch vom Krieg zerstörten Gegend. Die Räume waren hoch und hell, durch die drei hohen Schaufenster warfen sich je nach Jahres- und Tageszeit grellere oder diffusere Streifen Lichts in die Verkaufsräume. Eine Glasvitrine, groß wie vier Blumenfenster, nahm die Fläche einer Wand ein. Der Fußboden bestand aus schimmernden Travertinplatten. Frau Kleinert, die Putzfrau der Bücherstube, mit deren Hilfe ich mein Sächsisch verfeinerte, in deren Wohnung in der Oranienburger Straße ich ein paar Wochen nach dem 13. August 1961 das Hinterzimmer mietete, um nicht jeden Tag von und nach Kleinmachnow zwei Stunden hin und zwei zurück mit der Umgehungsbahn namens Sputnik zu reisen – Frau Kleinert war es, die den kostbaren Fußboden jeden Morgen mit Sägespänen pflegte, die mit einem scheußlich stinkenden Öl durchtränkt waren. Mit der Geste des Sämanns warf sie die fettigen Späne aus dem Eimer über dem Boden aus, fegte sie mit einem breiten Besen wieder zusammen und schüttete sie, dunkler geworden, in den Eimer zurück. Danach lag der kostbar schimmernde Glanz auf dem Fußboden. Der Geruch musste sich erst noch ausbreiten und mich ärgern, ehe er sich verzog. Bücher- und Geschenkpalast hätte die Deutsche Bücherstube ohne Übertreibung heißen können. Vom Kunsthandwerksgeschäft führte eine Treppe zur ersten und zweiten Etage. In der ersten Etage gab es in einem lang gezogenen, mit helldunkel gestreiftem, edlem Holz gestalteten Raum sämtliche in der DDR lieferbaren Kunstdrucke gerahmt oder ungerahmt zu kaufen. Ich arbeitete überwiegend im Parterre, nur ab und zu wurde ich der ruhigeren ersten Etage zugeteilt.

 

Hätte ich an jenem Spätnachmittag im Februar 1961, als eine amerikanische Studentin der Politikwissenschaften sich für Chagall interessierte, nicht in der ersten Etage bei den Kunstdrucken gearbeitet, wäre mein Leben anders verlaufen.

 

Und auch das Leben von Ilse v. Kamptz.

 

[…]

 

Frau Felsenstein und ihr berühmter Mann, der Intendant der Komischen Oper, waren dabei, ihr Häuschen auf Hiddensee einzurichten. Passend zu den rotweißen Decken und Vorhangstoffen sammelten sie das dunkelblaue, weiß betupfte Geschirr aus der Werkstatt Jürgel. Felsensteins besuchten die Deutsche Bücherstube immer nur sonnabends. Kaum hatten sie den Laden betreten, schien es heller zu werden. Hell vor Freundlichkeit. Wie sie sich freute, wenn sie wieder etwas Passendes erwischt hatte! Wie er sich mitfreute! Herr und Frau Felsenstein waren bestimmt glücklich. Jeder war es für sich und beide waren es zusammen. Lag das an der Musik? Weil Glücklichsein abfärbt, haben ich und zwei Kolleginnen, Frau P. und Frau H., uns unauffällig rangelnd darum gerissen, den beiden beim Kaufen helfen zu dürfen.

 

Zu Arnold Zweig und Frau hätte es dennoch gepasst, sie zu bedienen, dem weißhaarigen, kleinen, lächelnden Paar, das mich an alte, kostbare Puppen denken ließ. Nicht im gesellschaftlichen, wohl aber im menschlichen Sinn wäre es angemessen, Herrn und Frau Zweig zu bedienen, weil sie beide so zerbrechlich wirkten. Auch Anna Seghers zu bedienen, habe ich mir vorstellen können. Traurig sah sie aus, doch so schön wie auf allen Fotos, die man von ihr kannte, umweht von ein paar losgelösten silbernen Haarsträhnen. Weder aber beim Ehepaar Zweig noch bei Anna Seghers kam es zum Gerangel zwischen mir und Kolleginnen um die Gunst der Bedienung. Im Gegenteil, ich habe das Weite gesucht, sobald ich die Autoren meiner Deutschunterrichtszwangslektüren »Der Streit um den Sergeanten Grischa« beziehungsweise »Das siebte Kreuz« den Laden betreten sah. Ich habe mich eifrig anderen Kunden zugewandt und die Schriftsteller aus den Augenwinkeln verfolgt, mit schlechtem Gewissen. Ich habe meine Schulaufgaben nicht gemacht, bis heute nicht.

 

 

 

[…]

 

 

 

Manchmal habe ich mich, anstatt nach Hause zu fahren, einer Laune folgend, einer Sehnsucht, kurz nach siebzehn Uhr Oranienburger Tor in die U-Bahn gesetzt. Auf der Fahrt genoss ich die Vorfreude, nach ein paar Haltestellen für kurze Zeit dem Grau entronnen zu sein, dessen Fadheit bei uns beinahe überall dominierte, als wäre es sträflich, Farbe zu bekennen. Mein temporäres Fluchtziel war der Wittenbergplatz. Das Kaufhaus des Westens, die Stoffabteilung. Nur ein paar Schritte durch den Haupteingang, schon befand ich mich mittendrin. Mit durstigen Blicken und schüchtern streichelnden Fingern wanderte ich an den Tischen mit den Stoffen entlang, jeder Tisch ein wildes Reich für sich, auf dessen ausuferndem Gebiet sich Stoffballen und Stoffbahnen drüber und drunter geworfen miteinander vertrugen. Muster von Brokatroben, aus Gemälden van Dycks herausgezogen, bauschten sich auf Cezanne’schen Äpfeln und ihren Farben, über deren kollernder Pracht Blätter von Bäumen fächelten, wie Kirchner sie malte; ein expressionistischer Taumel entzückte meine Augen im Licht des gewaltigen Kronleuchters, unter dem alle Farben und Formen um die Wette schimmerten und loderten und lockten. Wenn meine Augen ganz besoffen waren, atmete ich tief ein und aus und begab mich traurig und zugleich wunderbar beunruhigt in die gewohnte Fadheit zurück.

 

[…]

 

An einem Nachmittag im Februar 1961 langweilte ich mich in der ersten Etage. Die Zeit vergeht nicht, wenn man nichts zu tun hat. Hinter dem Berliner Fenster war es dunkel. Neonlicht wirkt sich nicht förderlich auf die Stimmung aus. Ich saß und wartete auf meinen Feierabend, als ein Mädchen mit langem, rotblondem Haar den Raum betrat. In gebrochenem, gut formuliertem Deutsch bat sie mich, ihr Reproduktionen zu zeigen. Ich blätterte der späten Kundin die Bilder herunter, eins nach dem anderen. Bei den sozialistischen Realisten meiner Heimat habe ich etwas schneller geblättert.

 

Das Mädchen sah jedes Bild ernst an. Auch ich besah mir jedes Bild und versuchte, wie immer, wenn ich jemanden interessant fand, die Bilder mit dessen Augen zu sehen. Als ich fertig war und der Stapel Blätter, jedes in seiner Klarsichthülle, mit der letzten Rückseite nach oben zeigte, fragte mich das Mädchen: Haben Sie keine Bilder von Chagall?

 

Chagall dürfen wir leider nicht haben, antwortete ich.

 

Meine Antwort und der Ausdruck meines Gesichts brachten sie dazu, mich zu einer Tasse Kaffee einzuladen.

 

Ließe sich das Leben mit einer Bahnstrecke vergleichen, dürfte ich von meinem Leben behaupten: An dem Abend, als ein Mädchen aus Amerika und ich im Restaurant des Hotels Johannishof einen Kaffee tranken, wurden die Weichen umgestellt.

 

Chagall ist schuld.

 

Deborah Heller, Amerikanerin, Studentin der Politologie, Stipendiatin der Harvard Universität, und ich, Verkäuferin in Ostberlin, wurden Freundinnen. Ich erzählte ihr von meinem Leben, sie mir von ihrem. Sie wollte wissen, wie es sich im Sozialismus lebt. Ich fragte sie nach Amerika aus. Deborah nahm mich mit zu ihren Freunden und Kommilitonen nach Westberlin.

 

Es war in Schöneberg im Monat Mai 1961, als sie mich ihrem Kommilitonen Pete vorstellte, einem nach Briketts riechenden Brillenträger. Pete war der Meinung, dass die Mädchen im Osten besonders schön lächeln. Mir war es recht. Er selbst konnte unverschämt laut lachen. Ich verliebte mich in sein Lachen. Ich höre es noch heute.

 

[…]

 

Im April 1961 umkreiste Juri Gagarin die Erde, am 13. August desselben Jahres brachte ein Befehl zum Mauerbau es fertig, den Mond nach Westberlin zu verlegen.

 

Am 15. August tauchte mein Freund Pete in der Bücherstube auf. Ich hatte nicht mit ihm gerechnet, weil er in der Woche zuvor mit einem Freund zu einer lange geplanten Radtour nach Griechenland aufgebrochen war. Wir umarmten einander nicht. Ich war im Dienst und spürte von allen Seiten Blicke, gesteift von erschrocken angehaltenem Atem. Im weichsten Akzent flüsterte mein Freund, hörbar nur für mich: Hab kaine Angst, wir holen dich rrubrr.

 

Die Monate vom 13. August bis zum 30. Dezember 1961 gingen herum wie in einem Film, der davon handelt, dass alles, was einen weiterbringt, heimlich geschieht, dass es möglich ist, zwei Rollen zu spielen und in einer dritten zu sein. Ich war Verkäuferin und Dekorateuse und Untermieterin von Frau Kleinert und ich war beschwichtigende Tochter. Die Eltern wünschten der Tochter nun wirklich etwas Passenderes als einen Studenten aus dem Nato-Staat USA. Verkäuferin und Tochter teilten Traurigkeit und Zorn mit siebzehn Millionen anderen Menschen und fügten sich in die Unabänderlichkeit, von der Mauer umschlossen zu sein.

 

In Wirklichkeit […]

 

 

 

 

Nachdem ich 1967 bei einer Einreise in die Hauptstadt, mit meinem in Schweden ausgestellten Reisepass, erfahren hatte, dass mein Name aus den Fahndungslisten gestrichen worden ist, konnte ich aufgrund des dritten Passierscheinabkommens Ende 1967 mit einem  Mehrfachberechtigungsschein nach Ostberlin einreisen, als Westberlinerin.

 

 

 

Meine Eltern hatten herausbekommen, dass Fräulein v. Kamptz im Klub der Kulturschaffenden in der damaligen Otto-Nuschke-Straße arbeitete. Als gelernte Buchhändlerin hatte sie nach ihrem Rausschmiss aus der Deutschen Bücherstube im Foyer des Klubs mit einem Bauchladen angefangen. Aus dem Bauchladen war eine Bücherecke geworden, aus der Bücherecke eine kleine, offene Buchhandlung. Es lag ein Hauch von Schönheit und Einmaligkeit über den Tischen und Regalen voller Bücher.

 

Sie reichte mir ihre große Hand. Eine Weile standen wir einander gegenüber, das Fräulein v. Kamptz und ich. Wir sahen uns in die Augen. Ich habe herausbekommen, wonach sie immer ganz zart geduftet hatte und wonach sie immer noch duftete. Nach Maiglöckchen.

 

Ausschnitte aus "Chagall ist schuld" (S. 43 bis 73).

Die Geschichte der Flucht erzählt Sigrun Casper in "Das Pressecafé" (S. 84 bis 103).

Und die der erstmaligen Wiedereinreise von West nach Ost in "Tränenpalast" (S. 106 bis 124)

 


Aus der Geschichte "Das Pressecafé"

Waren die Tische rund, waren sie viereckig, lagen weiße Decken darauf? Vier Gäste passten an einen Tisch. Es war fast unmöglich, von woanders einen fünften Stuhl heranzuziehen. Die Stühle waren aus dunklem Holz, ihre Sitze mit Stoff bezogen, die Lehnen gepolstert. Oder standen da Holzstühle, die sich stapeln ließen? Hingen Kronleuchter von einer stuckverzierten Decke, Bilder an den Wänden? Waren darauf Stillleben, Landschaften oder Porträts von wahrheitsliebenden Zeitungsmenschen zu sehen? Die Fenster waren schmal und hoch, die nikotingefärbten Stores zur Seite gerafft. Aus dem Gesumm verschiedener Sprachen und dem Klappern von Geschirr löste sich ab und zu ein Lachen. Die Presseerzeugnisse, die dem Café seinen Namen gaben, sprachen nur eine einzige Sprache, Lachen kam darin nicht vor. In Holzschienen geklemmt hingen sie an einem Garderobenständer wie schlappe Fahnen.

 

Eine S-Bahn fuhr ein und fuhr wieder ab, man hörte das grummelnde Geräusch der fahrenden Bahn. Ich schob mich durch die Drehtür und war woanders. Oder trat ich durch den Spalt eines Vorhangs aus grünem Filz auf diese Bühne aus Gesichtern, Blicken, Stimmen und Zigarettenrauch? Nicht nur ich, alle Ein- oder Auftretenden hielten vor dem Eingang inne, reckten blinzelnd den Hals und strebten dann einem freien Stuhl zu. Kellnerinnen mit runden weißen Schürzchen und Kellner in Schwarz jonglierten schwer beladene Tabletts durch die Enge zwischen den Tischen. Die Gäste aßen, tranken, redeten, lasen Zeitung, rauchten Zigaretten, winkten der Bedienung wie Gäste in jedem anderen Café, doch hier lächelten fremde Leute einander an und fingen an zu reden. Das Lachen schallte über die Tische hinweg durch die Luft, am Nachmittag, wenn niemand mehr als zwei Gläschen Cognac oder ein, zwei Glas Wein intus hatte.

 

Draußen auf der Friedrichstraße gingen Leute ernst und in Eile vorbei, so eilig, ernst und versteckt, wie auch ich mich da draußen gab. Hier drinnen, nur durch die Scheiben der hohen Fenster von ihnen getrennt, sah ich mich neugierig um, und wenn ich im Gespräch mit einem mir unbekannten Menschen etwas komisch fand, lachte auch ich unbekümmert los. Mein Lachen klang mir weder gequält noch übertrieben und was ich sagte, war einfach, es war unverstellt von Geboten. Ich nahm keine Hand vor den Mund, wenn ich Kritik oder Begeisterung über das Leben von mir gab. Es war ja mein Leben. Aus dem einengenden Allerweltskostüm war ich in ein Kleid geschlüpft, dessen Schnitt und Stoff mir passten. Ich war auf einmal die, die ich gerne wäre, und ich übte mich mit mir.

 

[...]

 

Einer dieser beiden Stammgäste war ein strammer Mann Anfang, Mitte dreißig, Trenchcoat, Anzug und Krawatte, im Außenhandel tätig, Raucher stinkender filterloser Zigaretten. Von der zweiten Gegenüberstellung an begrüßte er mich mit Handschlag. Sein Interesse an mir war mir unangenehm und schmeichelte mir. Nach seinen Fragen meine Arbeit, Interessen und Befindlichkeiten betreffend schob er Kopf und Stuhl näher zu mir heran. Seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an. Es ging nun um meinen Freund und mich, das Ost-West-Paar. Ob wir uns gut verstünden, ob wir wirklich glücklich wären, wollte er wissen. Er fragte mich aus, als wollte er mich von Pete abwerben. Erstaunlich, wie er Mimik und Körpersprache sofort auf freundliche Beiläufigkeit umstellte, sobald das Objekt seiner Fragen am Tisch auftauchte. Pete, der die Funktion des Anzugträgers von Anfang an durchschaut hatte, spielte wortreich den Ahnungslosen. Ungefragt verriet er dem Spitzel, dass wir einander über die Mauer hinweg liebten und heiraten wollten. Da Eheschließungen mit Angehörigen von Nato-Staaten untersagt waren, wüssten wir nur nicht, wie. Den Kopf schräg gehalten, lauschte der Mann den Bekenntnissen meines Freundes. Dabei setzte er das einverständliche Kopfnicken ein, das man in Fernsehübertragungen von Volkskammersitzungen an allen eifrigen Genossen beobachten konnte.
Als mich der eifrige Genosse zwischen Weihnachten und Neujahr, wenige Tage vor meiner Flucht, alleine wartend erwischte, schob er grußlos den Stuhl sofort näher zu mir heran. Er hätte eine Neuigkeit für mich. Für ihn als Angestellten des Außenministeriums wäre es ein Kinderspiel, mir zur garantiert sicheren Einreise in den Westen zu verhelfen. Als ich die Augen verdrehte, rückte der hilfsbereite Genosse heraus, dass allerdings mit dem Erfolg des Unternehmens eine Bedingung verknüpft sei, als Honorar sozusagen. Ich begriff. Scheißkerl, dachte ich. Die einzige Möglichkeit, der Falle zu entgehen, war, kein Wort mehr zu sagen ...

 

Ausschnitt aus deem Anfang der Geschichte "Das Pressecafé"


Eine Geschichte aus der Kindheit: Schilder im Wäschegeschäft

Frau Kühn hatte ein Wäschegeschäft in Potsdam gehabt, ein kleines, aber immerhin, ein Geschäft. Waschen, bügeln, mangeln. Gemeinsam mit ihrem Mann. Wenn mir Frau Kühn von ihrem Geschäft erzählte, redete sie schneller als sonst, auch lauter. Ihre Stimme hörte sich dann an, als wäre sie viel jünger. Redete sie über Hitler und das deutsche Volk, klang ihre Stimme wie abgebrochen, wie gedrückt. Damals hatten die meisten Leute, die ein Geschäft besaßen, Schilder in ihre Schaufenster gehängt.
Darauf stand: »Hier dürfen Juden nicht kaufen« oder »Juden haben keinen Zutritt« oder einfach »Juden raus!«.
»Wer sind eigentlich die Juden«, habe ich Frau Kühn gefragt.
Daraufhin sie: »Na, ich frag dich mal was zurück. Weißt du, wer ein Protestant ist?«
»Nee. Nicht direkt. Der geht in die Kirche.«
»Oder ein Katholik?«
»Geht auch in die Kirche.«
»Oder ein Mohammedaner?«
»Nee. Na Menschen jedenfalls sind es«, war mir dann noch eingefallen. Da hat mich Frau Kühn in die Arme genommen und gelacht. Sie hat sich eine Träne aus den Augen gewischt. Dazu musste sie ihre Brille abnehmen. Ihre Augen sahen auf einmal so normal aus, ich war froh, als sie die Brille wieder aufsetzte.
»So ist es«, sagte sie, »genau so.« Es klang streng. »Juden sind Menschen.«
Sie runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf und redete schnell weiter. »Aber es ist, na, wollnmalsagen … eine Schande. Eine Schande ist das, dass man das extra sagen muss, dass jemand anders ein Mensch ist.« Sie richtete sich auf und atmete laut. »Und deswegen haben wir so ein Schild nicht aufgehängt«, sagte sie. Jedes Wort betonte sie feierlich. »Verstehst du?«
So ganz hatte ich das mit dem Schild nicht verstanden. Aber mitgekriegt hatte ich, dass Frau Kühn aufgeregt war, wenn sie von ihrem Laden erzählte und von dem Schild, das sie da nicht hingehängt hatten, und dass sie deswegen ein paar Mal mit ihrem Mann vorgeladen worden war. Bei der Polizei hatte man ihnen Strafen angedroht. Maßnahmen, so hieß das damals. Trotzdem hatten sie das Schild auch nach der Polizeivorladung nicht ins Schaufenster gehängt.
»Aber warum? Warum durften denn bestimmte Leute, also die Juden, nicht überall einkaufen gehen und ihre Gardinen waschen lassen? Warum haben denn die anderen das gut gefunden? Ich meine, warum haben denn die anderen Ladenbesitzer solche Schilder hingehängt? War doch dumm! Da haben sie doch weniger verdient, wenn die Juden nichts in den Geschäften kaufen durften? Und Sie, Frau Kühn, haben doch dann bestimmt mehr verdient?«
»Verdient? Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil.«
Sie starrte vor sich hin.
»Aber warum, Mensch, Frau Kühn, warum haben die Leute denn solche Schilder hingehängt?«
»Warum?«, antwortete sie. »Na, sagenwirmal so.«
Sie überlegte. Dann hob sie den Zeigefinger und piekte mir gegen die Nase. »Sag mal, wie viele seid ihr in der Klasse?«
»Zweiunddreißig.«
»Aha, zweiunddreißig. Soso. Aha.« Sie wischte mit der flachen Hand über ihre Knie, dass es nur so knackte. »Sagenwirmal so.« Sie sah mich listig an. »Sag mal ganz ehrlich. Gibt’s in deiner Klasse jemanden, den die meisten nicht leiden können?«
»Klar«, antwortete ich sehr schnell, »Robert Wagner.«
Frau Kühn nickte zufrieden. »Und nun«, sagte sie, »nun sag mal.« Sie drehte mein Kinn mit einer Hand so, dass ich ihr in die Augen sehen musste. »Sag mir mal, wieso ihr den Robert Wagner nicht leiden könnt.«
»Weil der albern ist. Und doof. Und klein ist er auch. Und der musste früher immer in der Stunde raus, weil er sich sonst in die Hosen gemacht hätte. Und außerdem ist er katholisch. Und die Katholiken sind falsch.«
»Au, au, au, au!«, schrie Frau Kühn, »das tut weh.«
Sie wackelte mit dem Kopf und nickte und strich sich über die Knie, alles auf einmal, der ganze Zirkuswagen kam ins Wanken. Sie atmete laut.
»Wenn ich dich nicht so verdammt gern hätte, na, ich weiß nicht. Ich würde dir höchstens noch die Wäsche abnehmen.«
Sie lächelte mich an.
Ich hatte was falsch gemacht. In meinem Kopf hatte etwas nicht richtig getickt, das Licht ging mir auf. Der kleine Robert Wagner saß immer ganz allein, dazu noch in der letzten Bank ganz hinten.
Ich wurde zornig auf Frau Kühn. Warum musste sie mir immer mit diesen alten Geschichten kommen. Frau Kühn brachte alles durcheinander, bloß wegen dem wahnsinnigen Hitler und den Deutschen und den Juden und wegen Robert Wagner.
Und was das Schlimmste war, sie fing danach von anderen Sachen an, als ob nichts gewesen wäre. Vom Wetter, vom Heizen, von der Feuchtigkeit.

 


Der Sachse

Ich war in der Schlange zur Abfertigung meiner Einreiseformalitäten dran und zeigte dem Grenzpolizisten in der Kontrollbuchte des Tränenpalasts meinen Mehrfachberechtigungsschein mit dem Tagesstempel sowie meinen behelfsmäßigen Personalausweis. Normalerweise geschieht der Kontrollvorgang in einer Atmosphäre feindselig gespannter Unpersönlichkeit. Aber dies Mal, so fließbandartig das alles vor sich ging, – der Grepo fiel mir auf. Sein korpulenter Oberkörper sprengte beinah seine Uniform, die Schirmmütze saß ihm wie ein Henkeltopf auf dem runden Schädel. Ein grobes, fettiges Gesicht. Die Augen darin blitzten und der kleine konturierte Mund konnte offenbar nicht anders als lächeln. Als er den Mund aufmachte und mich nach mitgeführten Verbotenheiten fragte, kam die Frage im feistest genuschelten Sächsisch heraus. Es reizte mich, ihm im besten Sächsisch, zu dem ich fähig war, zu antworten, und ich wagte es. Und was geschah? Mein Feind stempelte und schob mir lautlos sächsisch lachend meine Papiere zu. Ich sagte »dangescheen«, lachte ebenso lautlos zurück, dem Menschen in die Augen, und ging weiter.
Viele Monate später hatte ich es beim Grenzübergang, ob hin oder zurück, das weiß ich nicht mehr, mit dem gleichen, nein, mit demselben Kontrolleur zu tun. Ich seh ihn, reiche ihm meine Papiere, er schaut, das Passbild mit meinem Gesicht vergleichend, auf, lässt seine Augen noch heller blitzen und ruft aus: »Nu, sieht mr Sie oochma wiedr?«

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke