Claudia Gehrke: Das verschwundene Familiendorf

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Etwa in diesem Moment (um 15.12 kanarischer Zeit, hier ist es schon eine Stunde später) vor einem Jahr begann der Ausbruch des inzwischen Tagojaite benannten Vulkans. Das spurlose Verschwinden von Haus und Garten beschäftigte mich mehr, als ich mir hätte vorstellen können (wie sicher alle anderen über 1000 Familien, die weit mehr als ich, nämlich alle ihre Lebensgrundlagen, verloren haben) Aber so etwas stellt man sich ja auch nicht vor.

 Wie sich alle diesen grausamen Angriffskrieg nicht vorstellen konnten.

 

Ich träume immer noch oft davon. Bin im Haus mit Autor*innen (auch einige Originalmanuskripte aus vordigitalen Zeiten liegen in den jahrhundertealten Mauern des Hauses tief unter Lavastein. Vielleicht sind die Formen der Mauern noch vorhanden).  Das Licht flirrt durch Fenster in die Räume, draußen bewegen sich die feinen Blätter an den Mandelbäumen im Wind (der alte Mandelbaum direkt am Fenster war schon früher verschwunden) - und aus den blühenden Bäumen weiter unten fliegt ein Schwarm winziger gelb schimmernder Vögel auf, es sind Mosquiteros, die sich jeden Morgen und Abend dort versammelten, ich öffne alle Türen, jedes Zimmer hatte eine Tür, und ich weiß, es ist nicht wahr. Und laufe fort, durch das Schwarz, ohne herauszufinden.

(Keine Sorge, ich hab aus dem „Schwarz“ herausgefunden.)

Unsere unterschiedlichen Vulkan-Bücher möchte ich noch einmal allen ans Herz legen, bzw. je nach Lesevorlieben wenigstens eins davon. Alle freuen sich sehr über jede Bestellung

Tagebuch eines Vulkans, literarisch das intensivste, nahegehend, von Lucía Rosa González (deren blaues Haus viele Wochen lang standhielt, bis es sich der Lava ergeben musste, Fotos davon im Buch von saai Sarai Pais)  - Lavasteinzeit von Gudrun Bleyhl, mit vielen Fotos von Facundo Cabrera und anderen, alltagsnah, mitreißend, mit Sachinfos und  autobiografischen Rückblenden auf Leben, Liebe und die Insel seit 2000 – Es gibt noch andere interessante Bücher, deren Bestellung wir vielleicht auch über unsere Seite möglich machen.

In den besonderen Reiseführer von Ines Dietrich (Geheimnisse der Insel la Palma. Reiseführer durch 12 Monate), werden wie eine Beilage einlegen…. Denn etwa drei im Buch empfohlene Spaziergänge gibt es nicht mehr. Als PDF können Sie die zweisprachige Beilage demnächst hier herunterladen.

 

Hier meine Erinnerungen an das verschwundene „Familiendorf“. Viele ähnliche Häusergruppen lagen verstreut im Tal. Der Text ist mit einer kleinen Auswahl Bildseiten in „Lavasteinzeit“ gedruckt, hier auch als PDF zum Herunterladen.

 

Es gab in El Apurón (30.10.2021) einen Beitrag über Todoque. Ausgangspunkt eine Gruppe uralter Lavastein-Häuser, die Häuser der Urgroßeltern und deren Urgroßeltern des Autors Jesús Pérez Morera. Er erzählt die Geschichte von Generationen und Familien in der Gegend Todoque teilweise bis zurück ins 16./17. Jahrhundert.

Viele der verschwundenen Häuser haben einige Generationen beherbergt, andere wurden erst vor Kurzem und teils von den BewohnerInnen selbst gebaut. Die Geschichten der Häuser und Gärten und Plantagen bleiben in inneren Bildern und in Fotos lebendig, wenn nicht die Fotos auch verschwunden sind. Manche werden aufgeschrieben. Würden die Geschichten aller Häuser erzählt und in diesem Buch abgedruckt, wäre es Tausende von Seiten lang. Im Folgenden eine:

 

Als wir das alte Haus das erste Mal sahen, schien der Mond aufs Meer weit unten. (So könnte ein Roman beginnen). Der Mond scheint überall auf der Welt auf das Meer, aber hier schien er besonders, so kam es uns vor. Das alte Haus bestand aus halbmeterdicken Lavasteinwänden. Es sah unverwüstlich aus. Kein Wasser, kein Strom, ein Aljibe, in dem das Regenwasser gesammelt wurde, ein Seil mit Eimer. Unser Nachbar war darin aufgewachsen, und seine Vorfahren. Als junger Mann emigrierte er nach Santo Domingo und lernte dort Doña P. kennen; die beiden kamen zusammen zurück nach La Palma und lebten die erste Zeit in dem alten Haus. Es gab die kleine Küche mit Arbeitsflächen aus Stein. Zum Fleischzerkleinern diente ein Eukalyptusbaumstumpf. Das alte Haus mit großem Gelände unterhalb des Holperwegs, der hier endete, gehörte einer Tante; dem Nachbarn gehörte das Gelände oberhalb des Wegs, der später zur Straße umgebaut und El Frontón genannt wurde. Bald bauten sie sich ein neues Haus, das sich im Lauf der Jahre in eine Wolke aus Blumen hüllte. Blumen in Töpfen auf der Terrasse und ums Haus herum, die Leidenschaft unserer Nachbarin. Der praktische Arzt und Verlagsautor Udo Rabsch kaufte die alte Finca. Eine Kleinverlags-Verlegerin wie ich hätte auch den damaligen Preis (geschweige denn den aktuellen) nicht aufbringen können. Unser Verlag ist ein wenig wie eine Großfamilie. Verlagsautor*innen wohnten und schrieben im Haus. Manche ihrer Bücher spielen auf der Insel.*

Das erste Mal nach La Palma gekommen war ich 1981. Die Reise ein Geschenk. Der Verlag war gerade drei Jahre alt, ich hatte ohne Pause Referendariatszeit, Job als Lehrerin im Krankenhaus und parallel Gründungszeit Verlag hinter mir. „Mach Urlaub vom Verlag! Du musst den Verlag ganz vergessen, um dich zu erholen“, sagte die Schenkende. Ich wohnte im Casa Roja in Mazo, damals Hotel, in einem Zimmer mit riesiger Lavasteinbadewanne – von der sich nur der Boden mit warmem Wasser bedecken ließ. „Urlaub vom Verlag“ klappte nicht. Ich fuhr viel herum, verliebte mich in Landschaften und Menschen. Die vage Idee eines Buchs entspann sich. Das zweite Mal wohnte ich in Todoque in den kleinen Ferienhäuschen von Orlando mitten in Bananen. Die ersten Verlagsautor*innen besuchten La Palma, u.a. Udo Rabsch. Ich lernte Simone kennen und die Idee des Buchs wurde konkret. 1985 erschien es, ein zweisprachiges Buch mit literarischen Texten, in dem sich Menschen von der Insel und Reisende begegnen, zugleich ein Reiseführer. Es war das erste Buch in Deutschland zur Insel La Palma, vorher tauchte sie nur in einem kurzen Kapitel im Dumont Reiseführer über alle kanarischen Inseln auf. „Weil sie in den Himmel sieht … porque mira al cielo … La Palma. Die Canarische Insel“ steht auf dem Cover. Das Observatorium wurde in dem Jahr eröffnet. Es gab begeisterte Rezensionen; das Buch verkaufte sich gut in Deutschland und animierte Leser*innen, auf die Insel zu reisen, manche sogar dazu, für immer zu kommen (direkt nach Tschernobyl, 1986, kamen zum Beispiel der Setzer des Buchs und der Berliner Auslieferer). Mehr als 35 Jahre später, 2021, gestalteten wir ein zweites literarisches La Palma Lesebuch, in der Zwischenzeit erschienen Übersetzungen von Romanen und Erzählungen kanarischer Autorinnen und Autoren, u.a. des „Kanarenklassikers“ Mararía von Rafael Arozarena.

 

Haus und Garten waren zu meinem „zweiten Zuhause“ – bzw. wenn ich dort war, war es einfach mein Zuhause. Bald 37 Jahre lang lebte ich jedes Jahr drei Monate und mehr auf der Insel. Materialien für Bücher, getippte Originalmanuskripte (aus vordigitalen Zeiten), handgeklebte Layoutvorschläge, Briefe und Bilder blieben im Haus und ließen auch in La Palma ein Verlagsarchiv wachsen.

Das L-förmig gebaute Haus war ein typisch kanarisches Landhaus – die immer der Landschaft angepasst sind. Ein Teil zweistöckig mit Satteldach, der andere Teil einstöckig mit Flachdach, war es aus kunstvoll und exakt ineinandergefügtem Lavagestein in den Hang gebaut. Im Teil mit Flachdach ein kleines Zimmer und die Küche, im zweistöckigen Teil oben das große Zimmer. Türen aus dem feuerresistenten Tea-Holz (das Kernholz der kanarischen Kiefern). In den unteren Raum des zweistöckigen Teils bauten wir eine Dusche ein, einen Boiler, das Klo, in die Erde den pozo negro. Die Wände des Bads waren schwarz, aus unverputztem Lavastein. Irgendwann flieste eine Freundin den Boden mit kunstvollen Mustern, verputzte und strich die Wände weiß. Ihr war das Lavaschwarz (was genau hingesehen bunt ist) unheimlich. Das Wasser wurde aus dem aljibe hochgepumpt. Ein, zwei Jahre später kaufte Udo die Wasseraktie. Zum Klo mussten wir raus und eine Außentreppe hinuntergehen. Manche sagten: „Ich verstehe nicht, wie ihr so wohnen könnt, dass ihr immer nach draußen müsst, um aufs Klo zu gehen.“ Das Haus blieb bis zum Schluss, wie es war, die alten Fliesen, die Küche mit den Steinarbeitsplatten, auch einige der Stühle aus der Zeit vor uns waren noch da. Das Foto des jungen, frisch verheirateten Paars neben den Stühlen auf den roten Fliesen unseres Zimmers hing an der Wand des zentralen Zimmers im Nachbarshaus, in dem die „Chefin“ der wachsenden Familie, Doña P., residierte und die Familie, Verwandtschaft, wir und die anderen Nachbarn ein- und ausgingen und bei großen Festessen uns drängten. Der Arzt Udo (der seit Langem nicht mehr reisen kann und mir und Verlag das Haus ganz überlassen hat, aber „offizieller“ Besitzer blieb) hat viele kleine und größere Verletzungen und Krankheiten der Nachbarn und Verwandten behandelt.

Mit Hilfe der Nachbarn bauten wir den Ziegenstall wir zu einem Gastzimmer um, davor eine Bougainvillea, später einen weiteren Raum mit großen Fenstern unter der Terrasse am ehemaligen aljibe.

Nie mehr die Treppe zum Bad hinuntergehen und von dort ein paar Stufen weiter herunter zu dem zweiten Gastzimmer, oder den mit Steinen vom Strand in Puerto Naos gepflasterten Weg hoch zum Gastzimmer im Ziegenstall, das die Bougainvillea nach ein paar Jahren mit einer dunkelroten Wolke krönte. Vor der Gastzimmerterrasse duftete einer der Feigenbäume, auf das Dach war eine große Opuntie gewachsen. Der Eukalyptusbaumstumpf und ein gespenstisch-komisches Ding, ein großes verrostetes Eisenglied mit Löchern wie Augen, standen neben der steinernen Sitzbank. Das Eisenteil hatten wir mit den Steinen vom Strand von Puerto Naos hergebracht (in der Zeit, als das Hotelgerippe noch stand, an der Promenade gab es nur ein Lokal, die Bar Restaurante La Nao, und keine Palmen auf dem Strand. Die kleinen Ferienhäuschen, um deren Fundamente herum heute geparkt wird, waren noch da oder schon abgerissen worden, das weiß ich nicht mehr genau. Das Glied stammte von der Versorgungskette für eine Raketen-Kontrollbasis der USA, die bis 1974 vor Puerto Naos tätig war und nicht nur nach Signalen russischer U-Boote suchte, sondern auch die Vorzeichen des Teneguiaausbruchs, starke Bewegungen unter Wasser, ortete und an die spanische Regierung meldete.)

Bei „nie mehr Badtreppe“ denke ich an einen kalten Januartag. Eine erste Mandelblüte hatte sich an dem alten Mandelbaum direkt vor dem Haus geöffnet und ich telefonierte mit meiner Mutter. Kurz vor dieser Reise war sie vom Krankenhaus in die Reha gekommen, sie hatte mich überredet zu fliegen, ihr ginge es ja besser. Wir telefonierten lange. Sie sagte, dass sie heute (2008) noch manchmal bedauere, 1986 nicht mit mir mitgefahren zu sein. 1986 fuhr ich in einem alten blauen Käfer auf die Insel, der uns dort Jahre lang begleiten würde, und hatte sie eingeladen mitzufahren. Sie war in der Zeit etwas depressiv, das Reise-Abenteuer hätte sie vielleicht hinauskatapultiert. Später kam sie manchmal mit dem Flugzug. Mehrere Male war sie auf La Palma gewesen, auch meine Schwester, Nichten und Neffen, mein Bruder nur einmal. Sie sagte in dem Telefonat auch, dass sie gerne noch einmal auf die Insel reisen würde. Und ich Dumme antwortete: „Ich glaube das geht nicht mehr, mit deinem schwachen Herz zu fliegen. Und wenn du hier wärst, du könntest nicht mehr die Treppen zum Bad herunter- und wieder hochsteigen.“ Dann begannen die Hunde von unten zu bellen. Ich stand draußen, innen war der Empfang schlecht. Wir verstanden uns kaum mehr und verabschiedeten uns. Beim Autofahren zum Strand in Puerto Naos fiel mir ein, dass sie in dem damals für Udo reservierten Glasfensterzimmer unter der Terrasse hätte schlafen können, von da wären es nur wenige Stufen zum Bad gewesen. Und wenn sie für längere Ausflüge ganz hoch hätte steigen müssen hätten wir sie stützend hinaufbegleitet. Ich wollte sie gleich beim Fahren auf der Alcalá zurückrufen, hatte das Telefon schon in der Hand, ließ es aber, zu gefährlich, dachte ich, wir telefonieren bald wieder. Zwei Tage später, ich hatte noch nicht wieder angerufen, fiel sie ins Koma und während ich auf Teneriffa in einer Condormaschine saß, deren Abflug sich verspätete, starb sie.

 

Im Lauf der Jahre bauten die Kinder und später die Enkel des Nachbarpaares weitere Häuser auf das Gelände. Ein Familiendorf wuchs und wir gehörten dazu. Die Familiengeschichten in dem Dorf böten Stoff für Romane (so wie viele Familiengeschichten). Auch unser Haus war Schauplatz einiger Liebesromantik und -dramen.

Das Dorf lag unterhalb der im Frühjahr märchenhaft blühenden Cabeza de Vaca, um die Häuser Gärten voller Früchte.

Mein Arbeitsplatz war in der windgeschützten Ecke des L-förmigen Hauses. Der weite Blick nach unten und nach Süden hat mir viele Glücksgefühle beschert. Tausende von Sonnenuntergängen, Wolkenformen, Himmelsfarben. Manchmal pflückte ich Orangen aus den Wolken. Ich sah über unseren großen, terrassierten, wilden Garten und den ganzen heute unter Lava begrabenen Teil des Tals, Häusergruppen, viel Grün, die beiden Berge, den Todoque- und den La Lagunaberg, das Meer, links ins Blickfeld kam später (1993) die Spitze des Leuchtturms hinzu. In allen Pastelltönen Sonnenuntergänge spiegelnde Flächen der runden Bananenwasserbecken (estanques). Später waren sie optisch verdrängt von den weißen Überdeckungen der Plantagen. Wie ich in einem Beitrag über den Erbauer vieler Becken, Juan Manuel Batista, las, sind die dünnen Stahlbetonwände (innen mit Eisenrohren verstärkt) besonders stabil (weil sie dem Wasserdruck in alle Richtungen aushalten müssen), dass die Lava um sie herumfloss. Erst wenn sich die Lava in die Höhe schichtete, verschwanden auch die Becken. Am Anfang gab es im oberen Teil viel mehr Mandelbäume als heute, eine rosa Wolke im Januar, dazwischen freilaufende Ziegen. Das Industriegebiet wurde erst später gebaut, Häuser kam hinzu, auch wir bekamen rechts und links weitere Nachbarn, die um einige Ecken verwandt waren, neue Bäume wuchsen, auch unsere, die wir zu den Feigen-, Nisperos-, Pflaumen- und Mandelbäumen hinzugepflanzt hatten. Orangen, Zitronen, Äpfel, Guaven, Birnen, Nektarinen. Die große einzelnstehende alte Palme neben dem Gelände bekam Gesellschaft von sechs kleinen Palmen, die nach 35 Jahren auch groß waren, die Palmengruppe um unser Haus so weit oben sah von Ferne aus wie eine Oase. Irgendwann baute der Nachbar, auch den kannte ich schon als Jungen, weil er mit den Nachbarsenkeln spielte, unter uns einen riesigen Ziegenstall (der jedes Jahr vergrößert wurde). Eine Käsefabrik. Ab und zu schwappte der Geruch bis zu uns hoch. Zu manchen Zeiten erschreckten uns die Schreie gebärender Ziegen. Ein Podenco-Hunderudel bellte ein paarmal am Tag im Chor. Der Brötchenwagen, der Fischwagen, das Süßigkeitenauto mit seiner Melodie kamen vorbei. Und viele immer neue kleine Hunde. Keine Hochspannungsleitung zerschnitt das Bild. Der große Himmel. Die Sterne, die Milchstraße, eine Sternenwolke, so viele Sterne zeigen sich in Deutschland nicht. Einmal lag ich auf der Terrasse auf einer Matratze und sah in den Nachthimmel. Eine große Sternschnuppe flog so langsam vorbei, dass ich noch die anderen herausrufen konnte. 1997 sah ich den Kometen Hale-Bopp.

Der Blick vom Arbeitsplatz aus ist wie eingewachsen. Auch die Spazierwege in der Umgebung, die Straßen und Häuser auf den Fahrten zum Meer, zum Einkaufen.

Oft war ich alleine da, die Natur, die alten Mauern, ich versunken in Büchern, Blick nach unten über Bäume und Kakteen Richtung Meer. Auch das Nachbarshaus oberhalb konnte ich nicht sehen. Kaum angekommen, kamen jedes Mal Tiere und leisteten mir Gesellschaft. In den letzten Jahren war es ein kleiner gescheckter Nachbarshund mit einem Schlappohr. Er setzte sich nachts auf das Kissen an meinem Arbeitsplatz (das draußen auf einer Steinbank in der Ecke lag). Kam ich am Morgen heraus, sprang er herunter und nahm neben meinen Füßen Platz. Die Katzen versuchte er vergeblich zu vertreiben. Es gab Geckos und Eidechsen und Schmetterlinge, in einem Sommer flog ein großer Monarch-Schmetterling jeden Tag um die gleiche Uhrzeit vorbei und ließ sich eine Weile auf einem der Liegestühle nieder.

 Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang lebte ein Krähenpaar der Inselart (Grajas) in der großen Palme am Rand des Geländes. Jedes Jahr übten neue Junge fliegen. Einmal verteidigten sie ihr Revier gegen meine Gäste. Setzten sich bedrohlich, vielleicht war es auch freundlich, auf eine Schulter. Wenn ich an die Krähen denke, denke ich an das Gedicht der Autorin Lucía Rosa González, das eine Freundin und ich kurz vor Beginn des Vulkanausbruchs für das Literarische La-Palma-Lesebuch übersetzt hatten. Der Autorin gelingt es, in den Gedichten Gerüche und Geräusche der Insel fühlbar zu machen, den Wind, die weichen Krallen der Krähen in den Orangenbäumen. Und wie der Saft aus den Orangen langsam herausquillt. Ja, die Krallen der Krähen sind überraschend weich, wenn sie sich auf einen setzen, was in der ganzen Zeit nur einmal passiert ist.

Einmal war ich wieder mit Freundinnen und Verlagsmitarbeiterin im Haus. Es gab Mäuse. Die Freundinnen fanden sie niedlich, legten etwas Brot auf das Küchenarbeitsbrett und fotografierten eine der niedlichen Mäuse beim Brotklauen. Wir besorgten Lebendfallen, brachten die Tiere kilometerweit fort; sie tauchten wieder auf. Als die Frauen abgereist waren, machte ich alles Essbare unzugänglich. Zu meiner Überraschung waren in dem mitten in der Küche aufgehängten Beutel am nächsten Tag Mäusebissspuren am Brot. Ich kaufte einen großen Steinguttopf mit schwerem Deckel (den leichten Aludeckel eine Pfanne mit restlichem Essen hatten sie ohne Probleme angehoben und sprangen, als ich am Morgen in die Küche kam, aus der Pfanne). Ich hoffte, sie verschwinden, wenn sie ganz ohne Nahrung sind.

In der darauffolgenden Nacht wachte ich auf und eine Maus knabberte die Hornhaut an meinem Ellbogen ab.

Danach kaufte ich die anderen Fallen. Ich solle das alles aufschreiben, mailte mir Autorin Regina Nössler in der Zeit, das sei was für einen Roman wie „Die Wand“. Marlen Haushofers berühmten Roman hatte ich gebannt in der Anfangszeit im Haus gelesen. Eine Frau ist plötzlich allein auf der Welt, nur mit Tieren. Im Sommer 2021 habe ich den Roman wieder einmal gelesen. In den letzten Jahren waren keine Mäuse mehr zu sehen, vielleicht, weil es viele Katzen gab. Die Ratten hatten kleine Essenslager in Lücken der nicht ganz so kunstvoll wie die des Haupthauses aufgeschichteten Lavasteinwand des Ziegenstalles. Wer dort schlief, konnte es nachts manchmal knacken hören, das waren die Ratten, die Mandelschalen öffneten.

Als das alte Grajapaar weg war, vermutlich war es einfach gestorben, übernahmen Tauben und saßen in den Palmen. Die alte, größte Palme war von weit weg immer zu erkennen, von oben von den Spaziergängen auf der Cabeza de Vaca sah ich sie und wusste, wo ich wohne. Zum Schluss war sie das Letzte, was man von der Gegend sah.

Als etwa 15-jähriger Junge hat der Nachbar von unserem alten Haus aus den Ausbruch des San Juans gesehen; die Feuer- und Dampffontänen, als die aljibes explodierten, waren ihm als besonders eindrucksvoll in Erinnerung.

Die Nachbarn waren alle in ihren Häusern, nicht evakuiert, da niemand dachte, dass es so schnell gehen würde und es weiter südlich vermutet wurde.

Doña P. hat es bildhaft erzählt. Ein normaler Sonntag. Sie saß wie immer in dem Zimmer, in dem sich alle trafen, wo gegessen wurde, zwischen Küche, Bad und Schlafzimmer, und nähte wie immer Decken aus Stoffvierecken, während ein Film im TV lief, als der Enkel – der ist bald vierzig Jahre alt – mit aus Tiefe kommender Stimme voller Angst, so habe er noch nie gesprochen, hereinkam und sagte: der Vulkan.

Alle sind raus, so wie sie waren, die Enkel, die Urenkel, die Tochter hatte gerade gebadet. Die Nachbarin träumt heute noch davon. Es war wahnsinnig nah, circa 300, 400 Meter von uns entfernt. Nordöstlich der Montaña Rajada, zu der wir oft spazieren gingen, ist in unserer Richtung. Wie eine Atombombe. Sie fuhren sofort weg, nur mit dem, was sie anhatten. Und durften, da es so nah an der Eruptionsstelle die Gefahr von zu viel Gas gab, nie zurück, obwohl der Lavastrom die ersten Wochen nicht direkt zu uns lief. Er kam die Alcalá herab, und bog nicht in die Calle El Frontón ab.

Die Nachbarn hofften, irgendwann zurückkehren zu können. Sie schickten uns ein privates Drohnenvideo, auf dem alles unbeschädigt zu sehen war. Ich hoffte auch.

Seit die Nachbarin von Santo Domingo in die Gegend Paraíso/Tacande/Las Manchas gekommen war (beim Hauskauf stand als Adresse in unserer inscritura noch: „El paraíso sin número“), ist sie immer dort gewesen. Nie besuchte sie die Caldera oder den Norden der Insel. Manchmal musste sie nach Santa Cruz. Nur einmal reisten sie und ihr Mann nach Santo Domingo. Sie empfindet, dass sie nichts mehr hat als die Kleidung, die sie trug, als irreal. Als sei sie nicht mehr sie selbst, als hätte sie sich mit der Eruption in eine andere Doña P. verwandelt. Kein Foto des vor wenigen Jahren verstorbenen Mannes. Sie sei zu alt, sagte sie mir, sie kann kaum mehr laufen, es sei ihr unmöglich sich vorzustellen, anderswo zu wohnen, weit weg von ihren sozialen Kontakten – Die Familie hat sich zerstreut. Nur einer der Enkel hatte sein Haus nach dem großen Brand von 2016 versichert, alle anderen, auch unser „Zweitwohnsitz“, waren unversichert. Sie wohnen bei Verwandten, PartnerInnen, Doña P. zuerst in El Paso, dann in Tazacorte, die anderen in Mazo, Tajuya, Tazacorte, Tijarafe, einer in Deutschland bei seinem Arbeitgeber und Freund, dessen Häuser er betreute. Die Nachbarin möchte niemandem zur Last fallen. Sie hofft, in eins der Holzhäuser ziehen zu können, die auch in El Paso gebaut werden sollen. Das würde ihr reichen. Wenn sie noch etwas Platz für Blumen bekäme … Ihr jüngster Sohn hofft, ein Grundstück zu finden, wo er für seine Mutter und sich neu bauen kann. Lieber noch wäre ihm ein großes Gelände, wo auch andere aus der Familie und die früheren Nachbarn bauen könnten und ein neues Familiendorf entstünde. „Wir dürfen dem Alten nicht nachtrauern, wir werden neuanfangen. Das Alte bleibt als Erinnerung lebendig. Sehnsucht hilft nicht“, sagte er.

 

Kurz vor meiner Abreise nach meinem letzten Inselaufenthalt im Sommer 2021 schenkte mir die Frau eines der Enkel einen großen Salatkopf und duftende rosafarbene Rosen. Ich hatte gerade ihr neu in zartem Türkis gestaltetes und vergrößertes Haus angesehen und das Beet mit Salat und die von der Frau liebevoll angelegten alten Rosensorten bewundert. Dieses Detail ist in mir haften geblieben, wie absurd. Ich fotografiere nie Essen, aber in unserer Küche habe ich den Salatkopf fotografiert, weil er so schön aussah. Von dem liebevoll gestalteten Großfamiliendorf habe ich so gut wie keine Fotos, ein Haus hellgrün, eins helllila, eins rosa und gelb, und eines war besonders groß, dieser Sohn der Nachbarin hatte immer weiter gebaut, einen zweiten Stock, neue Terrassen, Garagen.

 

Ich war in Deutschland, saß am Computer und baute Seiten für eines der Bücher aus dem Herbstprogramm. Ein paar Stunden vor Ausbruch tauschte ich Mails mit Autorinnen und Autoren des literarischen Lesebuchs. Das Buch war schon eine Zeitlang in Druck, hätte schon fertig sein können, wenn nicht Papierlieferschwierigkeiten den Druck verzögert hätten. Ich berichtete, dass das Papier endlich angekommen und der Druck losgegangen sei. Am Schluss der Mail wünschte ich alles Gute und drückte die Daumen, dass es, wenn es zu einem Ausbruch käme, nicht schlimm würde. Ein paar Stunden später war es so weit. Danach, wie eine Sucht, unterbrach ich meine Arbeit dauernd und klickte auf die aktuelle Berichterstattung. Las El Diario, El Time, El Apurón und mehr, sie verlinkten zu Videoberichten und ich klickte immer weiter. Livestreams der Eruptionen und Lavaflüsse, in die sich endlos starren ließ. Ich konnte mich nicht davon abhalten, grausame Filme anzusehen, sah, wie der Lavafluss auf Häuser traf. Die Häuser wie Lebewesen, die zuerst widerstehen, dann zittern und zusammenbrechen. Oft brannten sie vorher noch kurz, das Feuer schoss aus allen Fenstern, dann wälzte sich der Fluss über sie hinweg. Danach sah es aus, als hätte es sie nie gegeben. Es gab immer mehr Videos und Fotos, mir schien, dass ich alles in dem Moment zu sehen bekam, in dem es geschah. Noch kein Vulkanausbruch wurde so gut dokumentiert. Ich kannte viele der Häuser auf den Videos, weil es meine Gegend war. Nachdem der Fluss tagelang in Todoque stehengeblieben war, sah ich, wie er sich in Bewegung setzte. Schnell fließende neue Lava hatte ihn wiederbelebt. Der Kirchturm von Todoque fiel langsam um; auf der Uhr war es halb fünf. Meine Bücher wurden zur Frankfurter Buchmesse nicht fertig. Nur das „Literarische La Palma Lesebuch“ erschien. Ich hatte mit dem Layout schon begonnen, als ich das letzte Mal im Haus war. Wir feilten an den Übersetzungen. Einige Begriffe fanden sich in keinem spanisch-deutschen Wörterbuch. Diese Begriffe gehören zu bestimmten Gegenden der Inseln, sie bezeichnen geografische und andere Besonderheiten, auch Gefühle, die es vielleicht nur dort gibt, es sind schöne, klangvolle, ihre Bedeutung anklingen lassende, Wörter.

Manche fanden wir in einem „kanarisch-spanischen Wörterbuch“, zum Beispiel „magua“, eine besondere Sorte Schmerz, verbunden mit Sehnsucht, schwer in ein deutsches Wort zu packen. Ein Wort fand ich auch in den kanarischen Wörterbüchern nicht.

Wir übersetzten das Wort nicht und gaben der Zeile den Sinn, den wir vermuteten. Nachdem Ricardo Hernández Bravo seine Korrekturfahne erhalten hatte, erklärte er mir das Wort „lisura“ per Mail, was es wohl nur auf La Palma gibt. Es bezeichnet eine kleine kompakte runde Wolke (an meist noch blauem Himmel), die Regen andeutet. Die Wolke, ein Wassermond. Er war dafür, lisura nicht als Anmerkung genauer zu erklären, die Poesie solle auf einer weißen Seite stehen, um ihre Wirkung zu entfalten.

Manche Bäume trugen zweimal im Jahr, ohne dass ich mich viel um sie kümmerte. War niemand im Haus, bewässerten die Nachbarn. Bei der Arbeit am Buch aß ich viele Äpfel, sie waren gerade reif. Die Feigen waren noch nicht reif. Ich bedauere heute, die süßen Maulbeeren in diesem letzten Sommer dort vergessen zu haben.

Eine schöne Erinnerung: dass ich mir über eine Wolke Gedanken machte, Salat und Äpfel aß, als ich das letzte Mal dort war.

 

Der neue nördliche Lavastrom lief zuerst über das Gelände, um das alte Haus herum. Das Dach mit einem Dachstuhl aus jungem Holz verbrannt, innen ein schwarzer zusammengebackener Klumpen aus der Bibliothek der Bücher, die mich über die Jahre begeistert hatten, und von Verlagsbüchern für den Verkauf auf der Insel, aus Manuskripten und anderen Dingen des Teils des Verlagsarchives, das dort lagerte. Die meisten Häuser und Gärten des Nachbardorfs und unser Garten waren schon verschwunden, als die „tapferen“ dicken Lavasteinmauern des alten Hauses und einige Palmen noch standen, die ersten Tage waren, bilde ich mir ein, auch noch die Teaholztüren zu sehen.  Die Nachbarn schickten ein Video, wie die Lava um das Glasfensterzimmer unter der Terrasse herumfloss. Das Lava umflossene Haus tauchte später erschreckend oft in Videos und nach Ende des Vulkanausbruchs in Kompilationen auf, weil der Strom vor dem Haus eine Zeitlang spektakulär anzusehen war. So weit oben, nahe der Eruptionsstelle, floss er rasend schnell und transportierte riesige Felsbrocken. Direkt neben uns war ein kleiner Hügel, auf dem eine Kiefer stand, die nach dem Brand von 2016 wieder schön gewachsen war, eine fast kugelrunde Krone hatte sie gebildet. (Es gab einige Brände, die uns erreichten; die jüngeren Nachbarn, einmal auch ich, nässten die Häuser Tag und Nacht mit Gartenschläuchen. Auf der Cabeza de Vaca blühte es im Frühjahr danach besonders intensiv). Auf diesem Hügel standen Videofilmer mit Gasmasken. Zuletzt war nur noch die alte große Palme zu sehen – ihre Kontur, wie ein Gespenst. Bewundernswert, wie lange sie standhielt.

Einmal war zu lesen:

„Die anfängliche Geschwindigkeit dieser Strömung hat sich verlangsamt, da sie an Fließfähigkeit verloren und an Viskosität gewonnen hat, was auf das Material zurückzuführen ist, das sie auf ihrem Weg absorbiert hat.“

Eine seltsame Empfindung, dass ein Teil des Lebens Teil dieses Materials war, das nun mit der neuen Landschaft verschmolzen ist.

Ich träume oft von La Palma. Immer wieder verlaufe ich mich in Schluchten und lande in der Lava. Einmal bin ich im Haus gewesen und wusste im Traum, dass das nicht möglich ist. Ich kletterte über die Lava an der Palme vorbei durch das offene Dach ins große Zimmer, die roten Fliesen waren noch da, von dort ging ich ins kleine Zimmer zwischen Küche und dem großen, jedes Zimmer hatte wie üblich in den alten Häusern eine Tür nach draußen, im kleinen Zimmer hing noch die leichte Hose, die mir meine Schwester geschenkt hatte, und das verblichene Kleid, das ich mir vor Jahren auf der Insel gekauft hatte – nur auf La Palma im Haus trug ich ein Kleid, sonst trage ich Hosen. Meine verstorbene Schwester Nicola und Tochter Sarah, meine Nichte, und E., eine der Nachbarsenkelinnen, waren auch da. E. erklärte uns, dass die Familie wieder einziehen könne. Dann lief ich endlos weit über die Lava, um einzukaufen, in der Ferne sah ich eine Stadt. Nicht Los Llanos, auch nicht die Häuseransammlungen von Las Manchas oder Todoque, sondern die Wohnblocks im Fechenheim meiner Kindheit.

Garten, Blick ins Weite, Haus, Tiere, ich habe die Bilder in mir und immer wieder einmal vor Augen, auch wenn ich mit ganz anderem beschäftigt bin. Und es gibt Berge von Fotos. Lichtspiele im Garten, Pflanzen, Früchte ... Und dazu zeigt Facebooks Algorithmus unerwartet (fast erschreckend) alte Posts mit Fotos an: „Deine Facebook-Erinnerungen“. Auch Bildschirmprints aus den Höllen-Lavastrom-Filmen speicherte ich.

An einem Abend fand ich eine Lavahöhenkarte, erstellt vom Cabildo, wo sich die Adresse eingeben und dann darauf klicken ließ. Ich suchte El Frontón, 7, klickte: Lavahöhe 18 Meter (am 18. Januar aktualisiert und von 18 auf 17 Meter korrigiert). Die Karte findet sich auf opendatalapalma.es.

Ich war kurz nach Ende des Ausbruchs schon an der Kiefer auf der Straße San Nicolás, hinter der die El Frontón rechts nach unten abging. Ich muss alles sehen. Andere möchten es nicht (so nah) sehen. Ich war auch im Mandelblütenrausch in Puntagorda, Garafía und in El Paso und im März und April (zwischendurch entstand die erste Auflage dieses Buchs) in der überquellend blühenden Wildnis rund um Mazo und Fuencaliente, auch in Lorbeer- und Kiefernwäldern, und bilde mir ein, manche Blüten seien 2022 besonders groß gewesen. Der Boden voller Lavasteinasche.

Es seien nicht die Mineralstoffe, die brauchen lange, sich zu lösen, erzählte mir der Autor José Antonio M. Corujo, aber vielleicht hat die Asche Insektenplagen verhindert.

Ich werde weiterhin oft auf die Insel kommen (auch wenn ich wie die Nachbarin niemandem zur Last fallen möchte). Der Gast-bei-Freundinnen-Status fällt mir schwer. Ob wir uns an die Neuformung der Landschaft im Tal gewöhnen werden?

 

Als der Vulkanausbruch begann, dachte ich zuerst panisch, jetzt muss der Vulkan noch ins La Palma-Lesebuch eingebaut werden. Doch ich habe nur den ersten Druckbogen neu drucken lassen und die erste Seite geändert. Im Nachhinein bin froh, dass das Buch vor Vulkanausbruch in Druck ging, denn sonst wären einige Beiträge vermutlich von Trauer durchzogen. Die meisten Texte im Buch spielen in den nicht vom Vulkan betroffenen Teilen der Insel.

 

Wenn es einmal zu einer Nachauflage kommen sollte, würde ich die Adressen und Namen des Verschwundenen zu den Fotos und Texten hinzuschreiben. Zum Beispiel stünde dann unter meinem Vorwort „Calle El Frontón 7“, unter dem Text „Der Hundeboulevard“ „Calle Alcalá“ und unter den Gedichten von Lucía Rosa González: „El Pampillo“ (Todoque).

15.05.2022, leicht ergänzte Fassung des „Nachworts“

der ersten Auflage vom 22.02.2022.

 

 

 

* Einige Gäste und ihre Bücher, die auf der Insel spielen: Regina Nössler (Deutscher Krimipreis): „Wanderurlaub“ (Thriller). Eine zusammengewürfelte Gruppe und der  Wanderführer treffen im Hotel das erste Mal aufeinander. Die Natur zeigt ihre gefährlichen Seiten. Doch die eigentliche Gefahr lauert nicht in der Natur. Die Wandernden verbindet, ohne dass sie es voneinander wissen, die Angst vor sozialem Abstieg. (Das schönste Sach-Buch über die Natur ist „Geheimnisse der Insel La Palma. Reiseführer durch 12 Monate“ von Inés Dietrich, die schon lange auf La Palma lebt, im Norden, im Westen und jetzt bei Mazo.) Udo Rabsch (Ärzte-Literaturpreis, Finalist beim Döblin-Preis): Romane „Tazacorte“, „Kaiman links“ und „Der gelbe Hund“. „Der gelbe Hund“ spielt in den 50er-Jahren in La Bombilla, auch bei den Campanarios in Jedey, und handelt vom Aufeinandertreffen einer vor Verfolgung im Dritten Reich geflohenen Frau und jemandem, der später kam und den sie verdächtigt, unter den Mördern ihrer Schwestern gewesen zu sein. („Seine Landschaftsschilderungen gehen unter die Haut“, schrieb ein Rezensent). Den „gelben Hund“ gab es wirklich, er lief viele Jahre lang in Puerto Naos herum. Yoko Tawada (sie schreibt auf Japanisch und Deutsch und erhielt u.a. den Kleist-Preis) schrieb nach ihrem Inselaufenthalt in den frühen 90ern auf Japanisch einen (nur) auf den ersten Blick surreal wirkenden Kurz-Roman über eine Übersetzerin. Die Geschichte spielt im Haus. Der Text erschien in Japan, und ich malte mir beim Blättern durch Seiten mit für mich unentzifferbaren, aber bildhaften japanischen Zeichen aus, was erzählt wird; ein imaginärer Roman formte sich in meinem Kopf. Im letzten Jahr übersetzten wir einen langen Auszug aus dem Text für das literarische La Palma Lesebuch. Dagmar Fedderke aus Paris, Sigrun Casper aus Berlin, Ulrike Voss, die Insel zeigt sich in vielen Geschichten. Es gab Begegnungen mit SchriftstellerInnen aus La Palma, zum Beispiel auf den zweisprachigen kanarischen Literaturnächten, die wir seit 2005 veranstalteten. Live-Musik und Lesungen, Ima Galguén und andere Musiker machten mit. Das erste Mal fand es im Teatro Chico in Santa Cruz statt, mit Antonio Abdo und Pilar Rey und anderen, danach in verschiedenen Kultursälen und in der Casa Massieu, wo auch die Herbstmesse stattfand.

 

Erschienen in Gudrun Bleyhl, Lavasteinzeit / Edad de lava

Zum Jahrestag des Vulkanausbuchs auf Facebook

Etwa in diesem Moment (um 15.12 kanarischer Zeit, hier ist es schon eine Stunde später) vor einem Jahr begann der Ausbruch des inzwischen Tagojaite benannten Vulkans. Das spurlose Verschwinden von Haus und Garten beschäftigte mich mehr, als ich mir hätte vorstellen können (wie sicher alle anderen über 1000 Familien, die weit mehr als ich, nämlich alle ihre Lebensgrundlagen, verloren haben) Aber so etwas stellt man sich ja auch nicht vor.

 Wie sich alle diesen grausamen Angriffskrieg nicht vorstellen konnten.

 

Ich träume immer noch oft davon. Bin im Haus mit Autor*innen (auch einige Originalmanuskripte aus vordigitalen Zeiten liegen in den jahrhundertealten Mauern des Hauses tief unter Lavastein. Vielleicht sind die Formen der Mauern noch vorhanden).  Das Licht flirrt durch Fenster in die Räume, draußen bewegen sich die feinen Blätter an den Mandelbäumen im Wind (der alte Mandelbaum direkt am Fenster war schon früher verschwunden) - und aus den blühenden Bäumen weiter unten fliegt ein Schwarm winziger gelb schimmernder Vögel auf, es sind Mosquiteros, die sich jeden Morgen und Abend dort versammelten, ich öffne alle Türen, jedes Zimmer hatte eine Tür, und ich weiß, es ist nicht wahr. Und laufe fort, durch das Schwarz, ohne herauszufinden.

(Keine Sorge, ich hab aus dem „Schwarz“ herausgefunden.)

Unsere unterschiedlichen Vulkan-Bücher möchte ich noch einmal allen ans Herz legen, bzw. je nach Lesevorlieben wenigstens eins davon. Alle freuen sich sehr über jede Bestellung

Tagebuch eines Vulkans, literarisch das intensivste, nahegehend, von Lucía Rosa González (deren blaues Haus viele Wochen lang standhielt, bis es sich der Lava ergeben musste, Fotos davon im Buch von saai Sarai Pais)  - Lavasteinzeit von Gudrun Bleyhl, mit vielen Fotos von Facundo Cabrera und anderen, alltagsnah, mitreißend, mit Sachinfos und  autobiografischen Rückblenden auf Leben, Liebe und die Insel seit 2000 – Es gibt noch andere interessante Bücher, deren Bestellung wir vielleicht auch über unsere Seite möglich machen.

In den besonderen Reiseführer von Ines Dietrich (Geheimnisse der Insel la Palma. Reiseführer durch 12 Monate), werden wie eine Beilage einlegen…. Denn etwa drei im Buch empfohlene Spaziergänge gibt es nicht mehr. Als PDF können Sie die zweisprachige Beilage demnächst hier herunterladen.

 

Hier meine Erinnerungen an das verschwundene „Familiendorf“. Viele ähnliche Häusergruppen lagen verstreut im Tal. Der Text ist mit einer kleinen Auswahl Bildseiten in „Lavasteinzeit“ gedruckt, hier auch als PDF zum Herunterladen.

 

Es gab in El Apurón (30.10.2021) einen Beitrag über Todoque. Ausgangspunkt eine Gruppe uralter Lavastein-Häuser, die Häuser der Urgroßeltern und deren Urgroßeltern des Autors Jesús Pérez Morera. Er erzählt die Geschichte von Generationen und Familien in der Gegend Todoque teilweise bis zurück ins 16./17. Jahrhundert.

Viele der verschwundenen Häuser haben einige Generationen beherbergt, andere wurden erst vor Kurzem und teils von den BewohnerInnen selbst gebaut. Die Geschichten der Häuser und Gärten und Plantagen bleiben in inneren Bildern und in Fotos lebendig, wenn nicht die Fotos auch verschwunden sind. Manche werden aufgeschrieben. Würden die Geschichten aller Häuser erzählt und in diesem Buch abgedruckt, wäre es Tausende von Seiten lang. Im Folgenden eine:

 

Als wir das alte Haus das erste Mal sahen, schien der Mond aufs Meer weit unten. (So könnte ein Roman beginnen). Der Mond scheint überall auf der Welt auf das Meer, aber hier schien er besonders, so kam es uns vor. Das alte Haus bestand aus halbmeterdicken Lavasteinwänden. Es sah unverwüstlich aus. Kein Wasser, kein Strom, ein Aljibe, in dem das Regenwasser gesammelt wurde, ein Seil mit Eimer. Unser Nachbar war darin aufgewachsen, und seine Vorfahren. Als junger Mann emigrierte er nach Santo Domingo und lernte dort Doña P. kennen; die beiden kamen zusammen zurück nach La Palma und lebten die erste Zeit in dem alten Haus. Es gab die kleine Küche mit Arbeitsflächen aus Stein. Zum Fleischzerkleinern diente ein Eukalyptusbaumstumpf. Das alte Haus mit großem Gelände unterhalb des Holperwegs, der hier endete, gehörte einer Tante; dem Nachbarn gehörte das Gelände oberhalb des Wegs, der später zur Straße umgebaut und El Frontón genannt wurde. Bald bauten sie sich ein neues Haus, das sich im Lauf der Jahre in eine Wolke aus Blumen hüllte. Blumen in Töpfen auf der Terrasse und ums Haus herum, die Leidenschaft unserer Nachbarin. Der praktische Arzt und Verlagsautor Udo Rabsch kaufte die alte Finca. Eine Kleinverlags-Verlegerin wie ich hätte auch den damaligen Preis (geschweige denn den aktuellen) nicht aufbringen können. Unser Verlag ist ein wenig wie eine Großfamilie. Verlagsautor*innen wohnten und schrieben im Haus. Manche ihrer Bücher spielen auf der Insel.*

Das erste Mal nach La Palma gekommen war ich 1981. Die Reise ein Geschenk. Der Verlag war gerade drei Jahre alt, ich hatte ohne Pause Referendariatszeit, Job als Lehrerin im Krankenhaus und parallel Gründungszeit Verlag hinter mir. „Mach Urlaub vom Verlag! Du musst den Verlag ganz vergessen, um dich zu erholen“, sagte die Schenkende. Ich wohnte im Casa Roja in Mazo, damals Hotel, in einem Zimmer mit riesiger Lavasteinbadewanne – von der sich nur der Boden mit warmem Wasser bedecken ließ. „Urlaub vom Verlag“ klappte nicht. Ich fuhr viel herum, verliebte mich in Landschaften und Menschen. Die vage Idee eines Buchs entspann sich. Das zweite Mal wohnte ich in Todoque in den kleinen Ferienhäuschen von Orlando mitten in Bananen. Die ersten Verlagsautor*innen besuchten La Palma, u.a. Udo Rabsch. Ich lernte Simone kennen und die Idee des Buchs wurde konkret. 1985 erschien es, ein zweisprachiges Buch mit literarischen Texten, in dem sich Menschen von der Insel und Reisende begegnen, zugleich ein Reiseführer. Es war das erste Buch in Deutschland zur Insel La Palma, vorher tauchte sie nur in einem kurzen Kapitel im Dumont Reiseführer über alle kanarischen Inseln auf. „Weil sie in den Himmel sieht … porque mira al cielo … La Palma. Die Canarische Insel“ steht auf dem Cover. Das Observatorium wurde in dem Jahr eröffnet. Es gab begeisterte Rezensionen; das Buch verkaufte sich gut in Deutschland und animierte Leser*innen, auf die Insel zu reisen, manche sogar dazu, für immer zu kommen (direkt nach Tschernobyl, 1986, kamen zum Beispiel der Setzer des Buchs und der Berliner Auslieferer). Mehr als 35 Jahre später, 2021, gestalteten wir ein zweites literarisches La Palma Lesebuch, in der Zwischenzeit erschienen Übersetzungen von Romanen und Erzählungen kanarischer Autorinnen und Autoren, u.a. des „Kanarenklassikers“ Mararía von Rafael Arozarena.

 

Haus und Garten waren zu meinem „zweiten Zuhause“ – bzw. wenn ich dort war, war es einfach mein Zuhause. Bald 37 Jahre lang lebte ich jedes Jahr drei Monate und mehr auf der Insel. Materialien für Bücher, getippte Originalmanuskripte (aus vordigitalen Zeiten), handgeklebte Layoutvorschläge, Briefe und Bilder blieben im Haus und ließen auch in La Palma ein Verlagsarchiv wachsen.

Das L-förmig gebaute Haus war ein typisch kanarisches Landhaus – die immer der Landschaft angepasst sind. Ein Teil zweistöckig mit Satteldach, der andere Teil einstöckig mit Flachdach, war es aus kunstvoll und exakt ineinandergefügtem Lavagestein in den Hang gebaut. Im Teil mit Flachdach ein kleines Zimmer und die Küche, im zweistöckigen Teil oben das große Zimmer. Türen aus dem feuerresistenten Tea-Holz (das Kernholz der kanarischen Kiefern). In den unteren Raum des zweistöckigen Teils bauten wir eine Dusche ein, einen Boiler, das Klo, in die Erde den pozo negro. Die Wände des Bads waren schwarz, aus unverputztem Lavastein. Irgendwann flieste eine Freundin den Boden mit kunstvollen Mustern, verputzte und strich die Wände weiß. Ihr war das Lavaschwarz (was genau hingesehen bunt ist) unheimlich. Das Wasser wurde aus dem aljibe hochgepumpt. Ein, zwei Jahre später kaufte Udo die Wasseraktie. Zum Klo mussten wir raus und eine Außentreppe hinuntergehen. Manche sagten: „Ich verstehe nicht, wie ihr so wohnen könnt, dass ihr immer nach draußen müsst, um aufs Klo zu gehen.“ Das Haus blieb bis zum Schluss, wie es war, die alten Fliesen, die Küche mit den Steinarbeitsplatten, auch einige der Stühle aus der Zeit vor uns waren noch da. Das Foto des jungen, frisch verheirateten Paars neben den Stühlen auf den roten Fliesen unseres Zimmers hing an der Wand des zentralen Zimmers im Nachbarshaus, in dem die „Chefin“ der wachsenden Familie, Doña P., residierte und die Familie, Verwandtschaft, wir und die anderen Nachbarn ein- und ausgingen und bei großen Festessen uns drängten. Der Arzt Udo (der seit Langem nicht mehr reisen kann und mir und Verlag das Haus ganz überlassen hat, aber „offizieller“ Besitzer blieb) hat viele kleine und größere Verletzungen und Krankheiten der Nachbarn und Verwandten behandelt.

Mit Hilfe der Nachbarn bauten wir den Ziegenstall wir zu einem Gastzimmer um, davor eine Bougainvillea, später einen weiteren Raum mit großen Fenstern unter der Terrasse am ehemaligen aljibe.

Nie mehr die Treppe zum Bad hinuntergehen und von dort ein paar Stufen weiter herunter zu dem zweiten Gastzimmer, oder den mit Steinen vom Strand in Puerto Naos gepflasterten Weg hoch zum Gastzimmer im Ziegenstall, das die Bougainvillea nach ein paar Jahren mit einer dunkelroten Wolke krönte. Vor der Gastzimmerterrasse duftete einer der Feigenbäume, auf das Dach war eine große Opuntie gewachsen. Der Eukalyptusbaumstumpf und ein gespenstisch-komisches Ding, ein großes verrostetes Eisenglied mit Löchern wie Augen, standen neben der steinernen Sitzbank. Das Eisenteil hatten wir mit den Steinen vom Strand von Puerto Naos hergebracht (in der Zeit, als das Hotelgerippe noch stand, an der Promenade gab es nur ein Lokal, die Bar Restaurante La Nao, und keine Palmen auf dem Strand. Die kleinen Ferienhäuschen, um deren Fundamente herum heute geparkt wird, waren noch da oder schon abgerissen worden, das weiß ich nicht mehr genau. Das Glied stammte von der Versorgungskette für eine Raketen-Kontrollbasis der USA, die bis 1974 vor Puerto Naos tätig war und nicht nur nach Signalen russischer U-Boote suchte, sondern auch die Vorzeichen des Teneguiaausbruchs, starke Bewegungen unter Wasser, ortete und an die spanische Regierung meldete.)

Bei „nie mehr Badtreppe“ denke ich an einen kalten Januartag. Eine erste Mandelblüte hatte sich an dem alten Mandelbaum direkt vor dem Haus geöffnet und ich telefonierte mit meiner Mutter. Kurz vor dieser Reise war sie vom Krankenhaus in die Reha gekommen, sie hatte mich überredet zu fliegen, ihr ginge es ja besser. Wir telefonierten lange. Sie sagte, dass sie heute (2008) noch manchmal bedauere, 1986 nicht mit mir mitgefahren zu sein. 1986 fuhr ich in einem alten blauen Käfer auf die Insel, der uns dort Jahre lang begleiten würde, und hatte sie eingeladen mitzufahren. Sie war in der Zeit etwas depressiv, das Reise-Abenteuer hätte sie vielleicht hinauskatapultiert. Später kam sie manchmal mit dem Flugzug. Mehrere Male war sie auf La Palma gewesen, auch meine Schwester, Nichten und Neffen, mein Bruder nur einmal. Sie sagte in dem Telefonat auch, dass sie gerne noch einmal auf die Insel reisen würde. Und ich Dumme antwortete: „Ich glaube das geht nicht mehr, mit deinem schwachen Herz zu fliegen. Und wenn du hier wärst, du könntest nicht mehr die Treppen zum Bad herunter- und wieder hochsteigen.“ Dann begannen die Hunde von unten zu bellen. Ich stand draußen, innen war der Empfang schlecht. Wir verstanden uns kaum mehr und verabschiedeten uns. Beim Autofahren zum Strand in Puerto Naos fiel mir ein, dass sie in dem damals für Udo reservierten Glasfensterzimmer unter der Terrasse hätte schlafen können, von da wären es nur wenige Stufen zum Bad gewesen. Und wenn sie für längere Ausflüge ganz hoch hätte steigen müssen hätten wir sie stützend hinaufbegleitet. Ich wollte sie gleich beim Fahren auf der Alcalá zurückrufen, hatte das Telefon schon in der Hand, ließ es aber, zu gefährlich, dachte ich, wir telefonieren bald wieder. Zwei Tage später, ich hatte noch nicht wieder angerufen, fiel sie ins Koma und während ich auf Teneriffa in einer Condormaschine saß, deren Abflug sich verspätete, starb sie.

 

Im Lauf der Jahre bauten die Kinder und später die Enkel des Nachbarpaares weitere Häuser auf das Gelände. Ein Familiendorf wuchs und wir gehörten dazu. Die Familiengeschichten in dem Dorf böten Stoff für Romane (so wie viele Familiengeschichten). Auch unser Haus war Schauplatz einiger Liebesromantik und -dramen.

Das Dorf lag unterhalb der im Frühjahr märchenhaft blühenden Cabeza de Vaca, um die Häuser Gärten voller Früchte.

Mein Arbeitsplatz war in der windgeschützten Ecke des L-förmigen Hauses. Der weite Blick nach unten und nach Süden hat mir viele Glücksgefühle beschert. Tausende von Sonnenuntergängen, Wolkenformen, Himmelsfarben. Manchmal pflückte ich Orangen aus den Wolken. Ich sah über unseren großen, terrassierten, wilden Garten und den ganzen heute unter Lava begrabenen Teil des Tals, Häusergruppen, viel Grün, die beiden Berge, den Todoque- und den La Lagunaberg, das Meer, links ins Blickfeld kam später (1993) die Spitze des Leuchtturms hinzu. In allen Pastelltönen Sonnenuntergänge spiegelnde Flächen der runden Bananenwasserbecken (estanques). Später waren sie optisch verdrängt von den weißen Überdeckungen der Plantagen. Wie ich in einem Beitrag über den Erbauer vieler Becken, Juan Manuel Batista, las, sind die dünnen Stahlbetonwände (innen mit Eisenrohren verstärkt) besonders stabil (weil sie dem Wasserdruck in alle Richtungen aushalten müssen), dass die Lava um sie herumfloss. Erst wenn sich die Lava in die Höhe schichtete, verschwanden auch die Becken. Am Anfang gab es im oberen Teil viel mehr Mandelbäume als heute, eine rosa Wolke im Januar, dazwischen freilaufende Ziegen. Das Industriegebiet wurde erst später gebaut, Häuser kam hinzu, auch wir bekamen rechts und links weitere Nachbarn, die um einige Ecken verwandt waren, neue Bäume wuchsen, auch unsere, die wir zu den Feigen-, Nisperos-, Pflaumen- und Mandelbäumen hinzugepflanzt hatten. Orangen, Zitronen, Äpfel, Guaven, Birnen, Nektarinen. Die große einzelnstehende alte Palme neben dem Gelände bekam Gesellschaft von sechs kleinen Palmen, die nach 35 Jahren auch groß waren, die Palmengruppe um unser Haus so weit oben sah von Ferne aus wie eine Oase. Irgendwann baute der Nachbar, auch den kannte ich schon als Jungen, weil er mit den Nachbarsenkeln spielte, unter uns einen riesigen Ziegenstall (der jedes Jahr vergrößert wurde). Eine Käsefabrik. Ab und zu schwappte der Geruch bis zu uns hoch. Zu manchen Zeiten erschreckten uns die Schreie gebärender Ziegen. Ein Podenco-Hunderudel bellte ein paarmal am Tag im Chor. Der Brötchenwagen, der Fischwagen, das Süßigkeitenauto mit seiner Melodie kamen vorbei. Und viele immer neue kleine Hunde. Keine Hochspannungsleitung zerschnitt das Bild. Der große Himmel. Die Sterne, die Milchstraße, eine Sternenwolke, so viele Sterne zeigen sich in Deutschland nicht. Einmal lag ich auf der Terrasse auf einer Matratze und sah in den Nachthimmel. Eine große Sternschnuppe flog so langsam vorbei, dass ich noch die anderen herausrufen konnte. 1997 sah ich den Kometen Hale-Bopp.

Der Blick vom Arbeitsplatz aus ist wie eingewachsen. Auch die Spazierwege in der Umgebung, die Straßen und Häuser auf den Fahrten zum Meer, zum Einkaufen.

Oft war ich alleine da, die Natur, die alten Mauern, ich versunken in Büchern, Blick nach unten über Bäume und Kakteen Richtung Meer. Auch das Nachbarshaus oberhalb konnte ich nicht sehen. Kaum angekommen, kamen jedes Mal Tiere und leisteten mir Gesellschaft. In den letzten Jahren war es ein kleiner gescheckter Nachbarshund mit einem Schlappohr. Er setzte sich nachts auf das Kissen an meinem Arbeitsplatz (das draußen auf einer Steinbank in der Ecke lag). Kam ich am Morgen heraus, sprang er herunter und nahm neben meinen Füßen Platz. Die Katzen versuchte er vergeblich zu vertreiben. Es gab Geckos und Eidechsen und Schmetterlinge, in einem Sommer flog ein großer Monarch-Schmetterling jeden Tag um die gleiche Uhrzeit vorbei und ließ sich eine Weile auf einem der Liegestühle nieder.

 Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang lebte ein Krähenpaar der Inselart (Grajas) in der großen Palme am Rand des Geländes. Jedes Jahr übten neue Junge fliegen. Einmal verteidigten sie ihr Revier gegen meine Gäste. Setzten sich bedrohlich, vielleicht war es auch freundlich, auf eine Schulter. Wenn ich an die Krähen denke, denke ich an das Gedicht der Autorin Lucía Rosa González, das eine Freundin und ich kurz vor Beginn des Vulkanausbruchs für das Literarische La-Palma-Lesebuch übersetzt hatten. Der Autorin gelingt es, in den Gedichten Gerüche und Geräusche der Insel fühlbar zu machen, den Wind, die weichen Krallen der Krähen in den Orangenbäumen. Und wie der Saft aus den Orangen langsam herausquillt. Ja, die Krallen der Krähen sind überraschend weich, wenn sie sich auf einen setzen, was in der ganzen Zeit nur einmal passiert ist.

Einmal war ich wieder mit Freundinnen und Verlagsmitarbeiterin im Haus. Es gab Mäuse. Die Freundinnen fanden sie niedlich, legten etwas Brot auf das Küchenarbeitsbrett und fotografierten eine der niedlichen Mäuse beim Brotklauen. Wir besorgten Lebendfallen, brachten die Tiere kilometerweit fort; sie tauchten wieder auf. Als die Frauen abgereist waren, machte ich alles Essbare unzugänglich. Zu meiner Überraschung waren in dem mitten in der Küche aufgehängten Beutel am nächsten Tag Mäusebissspuren am Brot. Ich kaufte einen großen Steinguttopf mit schwerem Deckel (den leichten Aludeckel eine Pfanne mit restlichem Essen hatten sie ohne Probleme angehoben und sprangen, als ich am Morgen in die Küche kam, aus der Pfanne). Ich hoffte, sie verschwinden, wenn sie ganz ohne Nahrung sind.

In der darauffolgenden Nacht wachte ich auf und eine Maus knabberte die Hornhaut an meinem Ellbogen ab.

Danach kaufte ich die anderen Fallen. Ich solle das alles aufschreiben, mailte mir Autorin Regina Nössler in der Zeit, das sei was für einen Roman wie „Die Wand“. Marlen Haushofers berühmten Roman hatte ich gebannt in der Anfangszeit im Haus gelesen. Eine Frau ist plötzlich allein auf der Welt, nur mit Tieren. Im Sommer 2021 habe ich den Roman wieder einmal gelesen. In den letzten Jahren waren keine Mäuse mehr zu sehen, vielleicht, weil es viele Katzen gab. Die Ratten hatten kleine Essenslager in Lücken der nicht ganz so kunstvoll wie die des Haupthauses aufgeschichteten Lavasteinwand des Ziegenstalles. Wer dort schlief, konnte es nachts manchmal knacken hören, das waren die Ratten, die Mandelschalen öffneten.

Als das alte Grajapaar weg war, vermutlich war es einfach gestorben, übernahmen Tauben und saßen in den Palmen. Die alte, größte Palme war von weit weg immer zu erkennen, von oben von den Spaziergängen auf der Cabeza de Vaca sah ich sie und wusste, wo ich wohne. Zum Schluss war sie das Letzte, was man von der Gegend sah.

Als etwa 15-jähriger Junge hat der Nachbar von unserem alten Haus aus den Ausbruch des San Juans gesehen; die Feuer- und Dampffontänen, als die aljibes explodierten, waren ihm als besonders eindrucksvoll in Erinnerung.

Die Nachbarn waren alle in ihren Häusern, nicht evakuiert, da niemand dachte, dass es so schnell gehen würde und es weiter südlich vermutet wurde.

Doña P. hat es bildhaft erzählt. Ein normaler Sonntag. Sie saß wie immer in dem Zimmer, in dem sich alle trafen, wo gegessen wurde, zwischen Küche, Bad und Schlafzimmer, und nähte wie immer Decken aus Stoffvierecken, während ein Film im TV lief, als der Enkel – der ist bald vierzig Jahre alt – mit aus Tiefe kommender Stimme voller Angst, so habe er noch nie gesprochen, hereinkam und sagte: der Vulkan.

Alle sind raus, so wie sie waren, die Enkel, die Urenkel, die Tochter hatte gerade gebadet. Die Nachbarin träumt heute noch davon. Es war wahnsinnig nah, circa 300, 400 Meter von uns entfernt. Nordöstlich der Montaña Rajada, zu der wir oft spazieren gingen, ist in unserer Richtung. Wie eine Atombombe. Sie fuhren sofort weg, nur mit dem, was sie anhatten. Und durften, da es so nah an der Eruptionsstelle die Gefahr von zu viel Gas gab, nie zurück, obwohl der Lavastrom die ersten Wochen nicht direkt zu uns lief. Er kam die Alcalá herab, und bog nicht in die Calle El Frontón ab.

Die Nachbarn hofften, irgendwann zurückkehren zu können. Sie schickten uns ein privates Drohnenvideo, auf dem alles unbeschädigt zu sehen war. Ich hoffte auch.

Seit die Nachbarin von Santo Domingo in die Gegend Paraíso/Tacande/Las Manchas gekommen war (beim Hauskauf stand als Adresse in unserer inscritura noch: „El paraíso sin número“), ist sie immer dort gewesen. Nie besuchte sie die Caldera oder den Norden der Insel. Manchmal musste sie nach Santa Cruz. Nur einmal reisten sie und ihr Mann nach Santo Domingo. Sie empfindet, dass sie nichts mehr hat als die Kleidung, die sie trug, als irreal. Als sei sie nicht mehr sie selbst, als hätte sie sich mit der Eruption in eine andere Doña P. verwandelt. Kein Foto des vor wenigen Jahren verstorbenen Mannes. Sie sei zu alt, sagte sie mir, sie kann kaum mehr laufen, es sei ihr unmöglich sich vorzustellen, anderswo zu wohnen, weit weg von ihren sozialen Kontakten – Die Familie hat sich zerstreut. Nur einer der Enkel hatte sein Haus nach dem großen Brand von 2016 versichert, alle anderen, auch unser „Zweitwohnsitz“, waren unversichert. Sie wohnen bei Verwandten, PartnerInnen, Doña P. zuerst in El Paso, dann in Tazacorte, die anderen in Mazo, Tajuya, Tazacorte, Tijarafe, einer in Deutschland bei seinem Arbeitgeber und Freund, dessen Häuser er betreute. Die Nachbarin möchte niemandem zur Last fallen. Sie hofft, in eins der Holzhäuser ziehen zu können, die auch in El Paso gebaut werden sollen. Das würde ihr reichen. Wenn sie noch etwas Platz für Blumen bekäme … Ihr jüngster Sohn hofft, ein Grundstück zu finden, wo er für seine Mutter und sich neu bauen kann. Lieber noch wäre ihm ein großes Gelände, wo auch andere aus der Familie und die früheren Nachbarn bauen könnten und ein neues Familiendorf entstünde. „Wir dürfen dem Alten nicht nachtrauern, wir werden neuanfangen. Das Alte bleibt als Erinnerung lebendig. Sehnsucht hilft nicht“, sagte er.

 

Kurz vor meiner Abreise nach meinem letzten Inselaufenthalt im Sommer 2021 schenkte mir die Frau eines der Enkel einen großen Salatkopf und duftende rosafarbene Rosen. Ich hatte gerade ihr neu in zartem Türkis gestaltetes und vergrößertes Haus angesehen und das Beet mit Salat und die von der Frau liebevoll angelegten alten Rosensorten bewundert. Dieses Detail ist in mir haften geblieben, wie absurd. Ich fotografiere nie Essen, aber in unserer Küche habe ich den Salatkopf fotografiert, weil er so schön aussah. Von dem liebevoll gestalteten Großfamiliendorf habe ich so gut wie keine Fotos, ein Haus hellgrün, eins helllila, eins rosa und gelb, und eines war besonders groß, dieser Sohn der Nachbarin hatte immer weiter gebaut, einen zweiten Stock, neue Terrassen, Garagen.

 

Ich war in Deutschland, saß am Computer und baute Seiten für eines der Bücher aus dem Herbstprogramm. Ein paar Stunden vor Ausbruch tauschte ich Mails mit Autorinnen und Autoren des literarischen Lesebuchs. Das Buch war schon eine Zeitlang in Druck, hätte schon fertig sein können, wenn nicht Papierlieferschwierigkeiten den Druck verzögert hätten. Ich berichtete, dass das Papier endlich angekommen und der Druck losgegangen sei. Am Schluss der Mail wünschte ich alles Gute und drückte die Daumen, dass es, wenn es zu einem Ausbruch käme, nicht schlimm würde. Ein paar Stunden später war es so weit. Danach, wie eine Sucht, unterbrach ich meine Arbeit dauernd und klickte auf die aktuelle Berichterstattung. Las El Diario, El Time, El Apurón und mehr, sie verlinkten zu Videoberichten und ich klickte immer weiter. Livestreams der Eruptionen und Lavaflüsse, in die sich endlos starren ließ. Ich konnte mich nicht davon abhalten, grausame Filme anzusehen, sah, wie der Lavafluss auf Häuser traf. Die Häuser wie Lebewesen, die zuerst widerstehen, dann zittern und zusammenbrechen. Oft brannten sie vorher noch kurz, das Feuer schoss aus allen Fenstern, dann wälzte sich der Fluss über sie hinweg. Danach sah es aus, als hätte es sie nie gegeben. Es gab immer mehr Videos und Fotos, mir schien, dass ich alles in dem Moment zu sehen bekam, in dem es geschah. Noch kein Vulkanausbruch wurde so gut dokumentiert. Ich kannte viele der Häuser auf den Videos, weil es meine Gegend war. Nachdem der Fluss tagelang in Todoque stehengeblieben war, sah ich, wie er sich in Bewegung setzte. Schnell fließende neue Lava hatte ihn wiederbelebt. Der Kirchturm von Todoque fiel langsam um; auf der Uhr war es halb fünf. Meine Bücher wurden zur Frankfurter Buchmesse nicht fertig. Nur das „Literarische La Palma Lesebuch“ erschien. Ich hatte mit dem Layout schon begonnen, als ich das letzte Mal im Haus war. Wir feilten an den Übersetzungen. Einige Begriffe fanden sich in keinem spanisch-deutschen Wörterbuch. Diese Begriffe gehören zu bestimmten Gegenden der Inseln, sie bezeichnen geografische und andere Besonderheiten, auch Gefühle, die es vielleicht nur dort gibt, es sind schöne, klangvolle, ihre Bedeutung anklingen lassende, Wörter.

Manche fanden wir in einem „kanarisch-spanischen Wörterbuch“, zum Beispiel „magua“, eine besondere Sorte Schmerz, verbunden mit Sehnsucht, schwer in ein deutsches Wort zu packen. Ein Wort fand ich auch in den kanarischen Wörterbüchern nicht.

Wir übersetzten das Wort nicht und gaben der Zeile den Sinn, den wir vermuteten. Nachdem Ricardo Hernández Bravo seine Korrekturfahne erhalten hatte, erklärte er mir das Wort „lisura“ per Mail, was es wohl nur auf La Palma gibt. Es bezeichnet eine kleine kompakte runde Wolke (an meist noch blauem Himmel), die Regen andeutet. Die Wolke, ein Wassermond. Er war dafür, lisura nicht als Anmerkung genauer zu erklären, die Poesie solle auf einer weißen Seite stehen, um ihre Wirkung zu entfalten.

Manche Bäume trugen zweimal im Jahr, ohne dass ich mich viel um sie kümmerte. War niemand im Haus, bewässerten die Nachbarn. Bei der Arbeit am Buch aß ich viele Äpfel, sie waren gerade reif. Die Feigen waren noch nicht reif. Ich bedauere heute, die süßen Maulbeeren in diesem letzten Sommer dort vergessen zu haben.

Eine schöne Erinnerung: dass ich mir über eine Wolke Gedanken machte, Salat und Äpfel aß, als ich das letzte Mal dort war.

 

Der neue nördliche Lavastrom lief zuerst über das Gelände, um das alte Haus herum. Das Dach mit einem Dachstuhl aus jungem Holz verbrannt, innen ein schwarzer zusammengebackener Klumpen aus der Bibliothek der Bücher, die mich über die Jahre begeistert hatten, und von Verlagsbüchern für den Verkauf auf der Insel, aus Manuskripten und anderen Dingen des Teils des Verlagsarchives, das dort lagerte. Die meisten Häuser und Gärten des Nachbardorfs und unser Garten waren schon verschwunden, als die „tapferen“ dicken Lavasteinmauern des alten Hauses und einige Palmen noch standen, die ersten Tage waren, bilde ich mir ein, auch noch die Teaholztüren zu sehen.  Die Nachbarn schickten ein Video, wie die Lava um das Glasfensterzimmer unter der Terrasse herumfloss. Das Lava umflossene Haus tauchte später erschreckend oft in Videos und nach Ende des Vulkanausbruchs in Kompilationen auf, weil der Strom vor dem Haus eine Zeitlang spektakulär anzusehen war. So weit oben, nahe der Eruptionsstelle, floss er rasend schnell und transportierte riesige Felsbrocken. Direkt neben uns war ein kleiner Hügel, auf dem eine Kiefer stand, die nach dem Brand von 2016 wieder schön gewachsen war, eine fast kugelrunde Krone hatte sie gebildet. (Es gab einige Brände, die uns erreichten; die jüngeren Nachbarn, einmal auch ich, nässten die Häuser Tag und Nacht mit Gartenschläuchen. Auf der Cabeza de Vaca blühte es im Frühjahr danach besonders intensiv). Auf diesem Hügel standen Videofilmer mit Gasmasken. Zuletzt war nur noch die alte große Palme zu sehen – ihre Kontur, wie ein Gespenst. Bewundernswert, wie lange sie standhielt.

Einmal war zu lesen:

„Die anfängliche Geschwindigkeit dieser Strömung hat sich verlangsamt, da sie an Fließfähigkeit verloren und an Viskosität gewonnen hat, was auf das Material zurückzuführen ist, das sie auf ihrem Weg absorbiert hat.“

Eine seltsame Empfindung, dass ein Teil des Lebens Teil dieses Materials war, das nun mit der neuen Landschaft verschmolzen ist.

Ich träume oft von La Palma. Immer wieder verlaufe ich mich in Schluchten und lande in der Lava. Einmal bin ich im Haus gewesen und wusste im Traum, dass das nicht möglich ist. Ich kletterte über die Lava an der Palme vorbei durch das offene Dach ins große Zimmer, die roten Fliesen waren noch da, von dort ging ich ins kleine Zimmer zwischen Küche und dem großen, jedes Zimmer hatte wie üblich in den alten Häusern eine Tür nach draußen, im kleinen Zimmer hing noch die leichte Hose, die mir meine Schwester geschenkt hatte, und das verblichene Kleid, das ich mir vor Jahren auf der Insel gekauft hatte – nur auf La Palma im Haus trug ich ein Kleid, sonst trage ich Hosen. Meine verstorbene Schwester Nicola und Tochter Sarah, meine Nichte, und E., eine der Nachbarsenkelinnen, waren auch da. E. erklärte uns, dass die Familie wieder einziehen könne. Dann lief ich endlos weit über die Lava, um einzukaufen, in der Ferne sah ich eine Stadt. Nicht Los Llanos, auch nicht die Häuseransammlungen von Las Manchas oder Todoque, sondern die Wohnblocks im Fechenheim meiner Kindheit.

Garten, Blick ins Weite, Haus, Tiere, ich habe die Bilder in mir und immer wieder einmal vor Augen, auch wenn ich mit ganz anderem beschäftigt bin. Und es gibt Berge von Fotos. Lichtspiele im Garten, Pflanzen, Früchte ... Und dazu zeigt Facebooks Algorithmus unerwartet (fast erschreckend) alte Posts mit Fotos an: „Deine Facebook-Erinnerungen“. Auch Bildschirmprints aus den Höllen-Lavastrom-Filmen speicherte ich.

An einem Abend fand ich eine Lavahöhenkarte, erstellt vom Cabildo, wo sich die Adresse eingeben und dann darauf klicken ließ. Ich suchte El Frontón, 7, klickte: Lavahöhe 18 Meter (am 18. Januar aktualisiert und von 18 auf 17 Meter korrigiert). Die Karte findet sich auf opendatalapalma.es.

Ich war kurz nach Ende des Ausbruchs schon an der Kiefer auf der Straße San Nicolás, hinter der die El Frontón rechts nach unten abging. Ich muss alles sehen. Andere möchten es nicht (so nah) sehen. Ich war auch im Mandelblütenrausch in Puntagorda, Garafía und in El Paso und im März und April (zwischendurch entstand die erste Auflage dieses Buchs) in der überquellend blühenden Wildnis rund um Mazo und Fuencaliente, auch in Lorbeer- und Kiefernwäldern, und bilde mir ein, manche Blüten seien 2022 besonders groß gewesen. Der Boden voller Lavasteinasche.

Es seien nicht die Mineralstoffe, die brauchen lange, sich zu lösen, erzählte mir der Autor José Antonio M. Corujo, aber vielleicht hat die Asche Insektenplagen verhindert.

Ich werde weiterhin oft auf die Insel kommen (auch wenn ich wie die Nachbarin niemandem zur Last fallen möchte). Der Gast-bei-Freundinnen-Status fällt mir schwer. Ob wir uns an die Neuformung der Landschaft im Tal gewöhnen werden?

 

Als der Vulkanausbruch begann, dachte ich zuerst panisch, jetzt muss der Vulkan noch ins La Palma-Lesebuch eingebaut werden. Doch ich habe nur den ersten Druckbogen neu drucken lassen und die erste Seite geändert. Im Nachhinein bin froh, dass das Buch vor Vulkanausbruch in Druck ging, denn sonst wären einige Beiträge vermutlich von Trauer durchzogen. Die meisten Texte im Buch spielen in den nicht vom Vulkan betroffenen Teilen der Insel.

 

Wenn es einmal zu einer Nachauflage kommen sollte, würde ich die Adressen und Namen des Verschwundenen zu den Fotos und Texten hinzuschreiben. Zum Beispiel stünde dann unter meinem Vorwort „Calle El Frontón 7“, unter dem Text „Der Hundeboulevard“ „Calle Alcalá“ und unter den Gedichten von Lucía Rosa González: „El Pampillo“ (Todoque).

15.05.2022, leicht ergänzte Fassung des „Nachworts“

der ersten Auflage vom 22.02.2022.

 

 

 

* Einige Gäste und ihre Bücher, die auf der Insel spielen: Regina Nössler (Deutscher Krimipreis): „Wanderurlaub“ (Thriller). Eine zusammengewürfelte Gruppe und der  Wanderführer treffen im Hotel das erste Mal aufeinander. Die Natur zeigt ihre gefährlichen Seiten. Doch die eigentliche Gefahr lauert nicht in der Natur. Die Wandernden verbindet, ohne dass sie es voneinander wissen, die Angst vor sozialem Abstieg. (Das schönste Sach-Buch über die Natur ist „Geheimnisse der Insel La Palma. Reiseführer durch 12 Monate“ von Inés Dietrich, die schon lange auf La Palma lebt, im Norden, im Westen und jetzt bei Mazo.) Udo Rabsch (Ärzte-Literaturpreis, Finalist beim Döblin-Preis): Romane „Tazacorte“, „Kaiman links“ und „Der gelbe Hund“. „Der gelbe Hund“ spielt in den 50er-Jahren in La Bombilla, auch bei den Campanarios in Jedey, und handelt vom Aufeinandertreffen einer vor Verfolgung im Dritten Reich geflohenen Frau und jemandem, der später kam und den sie verdächtigt, unter den Mördern ihrer Schwestern gewesen zu sein. („Seine Landschaftsschilderungen gehen unter die Haut“, schrieb ein Rezensent). Den „gelben Hund“ gab es wirklich, er lief viele Jahre lang in Puerto Naos herum. Yoko Tawada (sie schreibt auf Japanisch und Deutsch und erhielt u.a. den Kleist-Preis) schrieb nach ihrem Inselaufenthalt in den frühen 90ern auf Japanisch einen (nur) auf den ersten Blick surreal wirkenden Kurz-Roman über eine Übersetzerin. Die Geschichte spielt im Haus. Der Text erschien in Japan, und ich malte mir beim Blättern durch Seiten mit für mich unentzifferbaren, aber bildhaften japanischen Zeichen aus, was erzählt wird; ein imaginärer Roman formte sich in meinem Kopf. Im letzten Jahr übersetzten wir einen langen Auszug aus dem Text für das literarische La Palma Lesebuch. Dagmar Fedderke aus Paris, Sigrun Casper aus Berlin, Ulrike Voss, die Insel zeigt sich in vielen Geschichten. Es gab Begegnungen mit SchriftstellerInnen aus La Palma, zum Beispiel auf den zweisprachigen kanarischen Literaturnächten, die wir seit 2005 veranstalteten. Live-Musik und Lesungen, Ima Galguén und andere Musiker machten mit. Das erste Mal fand es im Teatro Chico in Santa Cruz statt, mit Antonio Abdo und Pilar Rey und anderen, danach in verschiedenen Kultursälen und in der Casa Massieu, wo auch die Herbstmesse stattfand.

 

Erschienen in Gudrun Bleyhl, Lavasteinzeit / Edad de lava